- v. Hausen

Im Jahre 1920 beende der Freiherr von Hausen (Deckname für Oscar Karl von Münch) sein Leben durch einen Sprung aus dem Fenster. 25 Jahre lang hatte er die württembergische Rechtspflege in Atem gehalten.

1890 - 1893 war v. Hausen Reichstagsabgeordneter. Er zog eine Menge von Strafverfahren wegen Beleidigung sowie Mißachtung des Gerichts usw. auf sich. 1895 wurde v. Hausen in einem Verfahren wegen Richterbeleidigung als geisteskrank (Schizophrenie) außer Verfolgung gesetzt. Ein weiteres Gutachten erklärte v. Hausen 1896 für fähig, seine Angelegenheiten zu besorgen; er war also geschäftsfähig. 
Ab 1897 wurde v. Hausen wegen Beleidigungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Bedrohungen oder Körperverletzungen bestraft. Er wehrte sich mit Berufungen, Revisionen, Beschwerden, Ablehnungen und Eingaben an Landtag, Reichstag, Bunderat und Ministerien und verfaßte zahlreiche Flugschriften.
Als v. Hausen in einem Raufhändel auf seinen Stallschweizer schoß - v. Hausen hatte Notwehr behauptet - , endete das Verfahren mit einer Geisteskrankerklärung. Der Internierung entzog sich v. Hausen zunächst durch Erwerb der preußischen Staatsbürgerschaft und Wegzug nach Berlin. 

V. Hausen verfaßte weitere Flugschriften, in denen er die württembergische Justiz angriff. Bei einem Besuch wurde er zwangsinterniert und erneut mehrfach psychiatrisch begutachtet: Einmal wurde er zum an Querulantenwahn erkranktem Verblödeten erklärt, ein anderes Mal zum "psychisch minderwertigen, aber gesunden Querulanten". Da gemeingefährlich, sollte v. Hausen interniert werden, konnte jedoch nach Berlin fliehen. Neue Broschüren  sandte v. Hausen von Berlin aus. Schließlich wurde v.Hausen nahe Berlins interniert, was eine Flut von Beschwerden auslöste, nun auch gegen die Ärzte.

Schließlich entschlossen sich die Ärzte(!), den Juraprofessor Friedrich Endemann zu beauftragen, die v. Hausen'schen juristischen Schriftsätze auf die Frage des Schwachsinns hin zu überprüfen. Prof. Endemann kam zum erstaunlichen Ergebnis, daß die v. Hausen'schen Schriftsätze juristisch sehr durchdacht und frei von unsinnigen Rechtsausführungen seien, frei auch von wahnhaften Ideen und Zeichen von Schwachsinn. So habe v. Hausen einen 165 Seiten umfassenden "Vorschlag einer neuen Fassung des Familienrechts des bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich" verfaßt, die eine erstaunliche Leistung sei. Allerdings seien Pedanterie und die Unfähigkeit, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden, hervorzuheben, erkennbar an der Neigung, auf unbedeutenden Angriffspunkten herumzureiten.

Bis 1898 hatte v. Hausen 152 Strafanzeigen gegen Beamte, Sachverständige, Zeugen erstattet. Gegen ihn wurden 48 Strafanzeigen erstattet. V. Hausen fehlte es gänzlich an Ironie, Sarkasmus und Witz, ihn charakterisiert ein Minus an psychologischem Verstand. Ein Richter galt v. Hausen als ein rein intellektuell funktionierender Organismus. Sein berühmtes Deutsch erschien in seinen Eingaben geradezu als Persiflage des Aktendeutsches. Sich in andere hineinzudenken war nicht seine Sache. Jedoch war v. Hausen nicht unbelehrbar, er war in der Lage logischen Argumenten - sofern frei von psychologischen Färbungen - zu folgen. 

Endemanns Gutachten von 1921 deckte auf, daß v. Hausen nicht selten seitens der Justiz unrichtig behandelt wurde. 

Der Heidelberger Psychiater Wetzel lieferte - aus ärztlicher Sicht (!) - ein erstaunlich frühes Beispiel interaktionistischer Perspektive; gleichwohl vertrat er 1921 die Meinung: "Man mußte ungerecht werden." Es sei auf Seiten v. Hausens um menschliche Unzulänglichkeit, auf Seiten des Staates um den Erhalt des größeren sozialen Organismus gegangen.

Mit Urteil vom 4.7.1908 entmündigte das Reichsgericht v. Hausen, unter Verstoß gegen den Grundsatz, daß eine völlige Entmündigung nach § 6 BGB nur dann infrage gekommen wäre, wenn der zu Entmündigende in der Gesamtheit der Angelegenheiten unfähig zur Besorgung war. Aus der Tatsache, daß v. Hausen seinen Besitz gut bewirtschaftet, schließt Wetzel daher, daß das RG v. Hausen "wegen Gemeingefährlichkeit" entmündigte und damit - im Vorgriff auf den NS-Staat - den Schutz der Allgemeinheit vor den Schutz des Kranken stellte. Dies widerfuhr einer Persönlichkeit, die in der Erinnerung seiner Dorfleute als "schrulliger, unendlich fleißiger, rastlos tätiger, oft auch gütiger und hilfreicher Mensch" fortlebte. Wetzel rechtfertigt die Entscheidung des RG: die Grenzsetzung sei "staatsnotwendig"1  gewesen.

Vor dem Grundgesetz wäre dies wohl nicht mehr ohne weiteres haltbar, denn v. Hausen war der Prototyp des nicht geisteskranken Psychopathen, vor denen sich der Staat dadurch schützt, indem er von Krankheitswert dann spricht, wenn ein - weithin willkürlich gesetzter - Grad an Anomalie überschritten wird. Heute würde die Justiz v. Hausen schlicht dadurch zum Schweigen bringen, indem sie ihn für prozeßunfähig erklärte.

Interessant ist die Anmerkung des Juristen Endemanns: Einerseits litt v. Hausen an einem Übermaß an Streit- und Prozeßsucht - andererseits beruhten seine Angriffe und Beschwerden vielfach auf richtiger sachlicher Beurteilung. Der Staat rächte sich, nachdem der Vormund der geschiedenen Ehefrau v. Hausens aus dessen Vermögen ohne jede rechtliche Grundlage eine enorme Abfindung von 200.000,- Mark bewilligt hatte: Das Gericht wies v. Hausens Klage als unbegründet ab, laut Endemann "absolut unverständlich".

Endemann stellte die entscheidende Frage: "Wo liegt die G r e n z e für noch erlaubte, vernünftige Abwehr und wo beginnt die als Kennzeichen der geistigen Erkrankung zu bewertende Prozeßwut?"

Sodann kritisiert Friedrich Endemann - zu Recht - die völlige Entmündigung v. Hausens. Rechtlich vertretbar sei allenfalls eine Unterpflegschaftstellung gemäß § 1910 II BGB gewesen. Endemann kommt zum Schluß: Die Entmündigung sei zum Schutze der allgemeinen staatlichen Ordnung erfolgt. Endemann fordert verstärkten rechtlichen Schutz vor zwangsweiser Unterbringung in geschlossenen Anstalten und hält es für geboten, gerade gegenüber abnormen Menschen "peinlich für die volle Wahrung seiner berechtigten Ansprüche " zu sorgen.

Naturen wie die des Freiherrn v. Hausen und Interaktionsdynamiken zwischen Staatsorganen und Individuen wie seinerzeit geschehen, gibt es zweifelsohne auch heute. Der Appell Endemanns hat sich nicht erledigt. Bublitz bezeichnete die Entmündigung v. Hausens als "Maulkorbentmündigung" (in: Kleist (Hg.), Richter und Arzt, 1956, 142) und kommt dann zur eleganteren Lösung: Feststellung der prozessualen Geschäftsunfähigkeit (=Prozeßunfähigkeit) gem. § 56 ZPO. Was würde Endemann, der immerhin, noch ohne Kenntnis der sich später entwickelnden Begrifflichkeit, v. Hausen auch als Opfer eines sich aufschaukelnden dynamischen Interaktionsprozesses erkannte, dazu wohl heute sagen?



Anmerkung:
1 War eine derartige einseitige Staatswohlorientierung nicht eben diejenige, die wenig später in der radikalen NS-Doktrin "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" Gestalt annahm? 



Literatur: 
- Friedrich Endemann, Gutachten. MSchrKrim 1921, 366-370

- Albrecht Wetzel, Das Interesse des Staates im Kampfe mit dem Recht des Einzelnen. MSchr. f. Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 12 Jg., 1921, 346-370
Anm. zu Wetzel: 
Karl Jaspers lobte die "ungewöhnlich klare Weise" der Darstellung des Falles v. Hausen durch Wetzel (Allgemeine Psychopathologie, 1946, 609); von seinem Obersicht-Paradigma vermochte sich Jaspers allerdings nie zu lösen, dies zeigt sich u.a. an seiner vehementen Ablehnung der Psychoanalyse, und damit deren wichtige Entdeckung des Phänomens der sog. 'Gegenübertragung'.

 







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