Strukturelle Gewalt

Johan Galtung unterschied nicht nur zwischen personaler (physischer und psychischer) Gewalt, sondern er prägte den Begriff "strukturelle" Gewalt. Ein klassischer Fall struktureller Gewaltausübung des Justizsystems dürfte in diesem Sinne die vom Staat im Zivilverfahren errichtete Zugangshürde zur Justiz in Gestalt einer psychiatrischen Untersuchung (=psychische Gewalt) sein. Kafkas "Vor dem Gesetz" beschreibt eine ähnliche Lage.  

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß es nachfolgend allein um das ZPO= Zivilverfahren geht, in dem das Parteikamfprinzip herrscht. Demgegenüber gilt im FGG-Verfahren a. F. - jetzt FamFG (Familien-, Betreuungs- und Unterbringungsverfahrensrecht) -  das Amtsermittlungsprinzip. Verkürzt gesagt, leitet sich das Amtsermittlungsprinzip vom öffentlichen Interesse ab. Für einen mit Zweifeln über seinen Geisteszustand überzogenen Verfahrensbeteiligten sind diese beiden Prinzipien von ganz erheblicher Relevanz: 

- Das Privatrecht (ZPO-Verfahren) ist von der Privatautonomie bestimmt, folglich gilt der Beibringungsgrundsatz (Parteidisposition). Aus dem Beibringungsgrundsatz wird abgeleitet: wer nicht freiwillig zum Psychiater geht, verwirkt (bei dadurch unausgeräumten Zweifeln) sein Klagerecht! 
 
-  in den sog. Amtsverfahren herrscht hingegen öffentliches Interesse vor - das sich in so schöne Vokabeln wie "staatlicher Wächter", "staatliche Fürsorge" oder "Kindeswohl" kleidet. Hier kann (aus schierer Fürsorge versteht sich) die Vorführung zur Untersuchung angeordnet werden. Gegen derartige staatliche Zwangsmaßnahmen  - siehe etwa § 4 UBG - gewährt die Rechtsordnung dem Betroffenen immerhin Rechtsschutz in Gestalt von Beschwerderecht.   

Die im Zivilverfahren errichtete Zugangshürde berührt demgegenüber sogar in verstärktem Maße Grundrechte, verstärkt deshalb, weil es hier nicht allein um das Wohl des Bürgers - etwa um Betreuungsbedarf -  geht, sondern um sein Grundrecht auf Justizgewähr - und dies eventuell in Verbindung mit massiver Beschädigung seiner Menschenwürde. Verstärkt aber auch deshalb, weil die sog. "Dritte Gewalt" (=Justizsystem) dem rechtsunterworfenen Bürger als Person entgegentritt, denn "Zweifel" an der Prozessfähigkeit einer Partei, besonders in den häufigen Grenzfällen, hängen nicht nur von dem prozessualen Verhalten der jeweiligen Partei ab, sondern ebenso von (Vor)einstellung und Persönlichkeit des Vorsitzenden Richters. Besondere Bedeutung dürfte dabei dessen Potential an Aggression und Empathie zukommen. Denn zweifellos wird ein mit Zweifeln an seinem Geisteszustand Überzogener dies als aggressiven Akt empfinden. Der Fähigkeit des Richters, dieses nachzuempfinden, steht sein strukturell gegebenes Omnipotenzgefühl entgegen. Einzig denkbares Korrektiv wäre ein sofortiges Beschwerderecht des Betroffenen, das die geltende Verfahrensordnung indes bislang nicht vorsieht. Wie bereits unter Problemstellung  ausgeführt, dient die Eliminierung vermeintlich prozeßunfähiger Parteien vor allem der Funktionsfähigkeit der Justiz.

Warum strukturelle Gewalt anders behandelt wird als angedrohte unmittelbare Gewalt im FGG-Verfahren (§ 33 FGG a.F.= § 35 FamFG), wo nämlich die Rechtsprechung ausnahmsweise Beschwerderecht gem. § 19 FGG zubilligt, bleibt unerfindlich, denn das Ergebnis ist dasselbe: Im Falle der Weigerung, sich dem Psychiater zu öffnen, verliert der Proband sein Grundrecht auf Justizgewähr (ständige Rechtsprechung), da dann der Richter seine Zweifel als nicht ausräumbar sieht.  

Ein geradezu grotesker Vorschlag aus der Mitte der Kommission für das Zivilprozeßrecht lautete: es möge eine Vorschrift in Anlehnung an § 372 a ZPO geschaffen werden, die eine Partei, deren Prozeßfähigkeit angezweifelt wird, verpflichtet, die Untersuchung durch einen ärztlichen Sachverständigen zu dulden, damit die Gerichte nicht "häufig auf einen schwierigen Indizienbeweis angewiesen" seien. Zwar hatte "die große Mehrheit der Kommission" Bedenken gegen die Einführung einer Duldungspflicht (Zwangsuntersuchung). Daß jedoch ein "derartig schwerwiegender Eingriff in die grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechte" überhaupt erwogen wurde, kann nur bedenklich stimmen. (Quelle: Bericht der Kommission für das Zivilprozeßrecht, Bundesministerium der Justiz, März 1977, Seite 153)

Da die Staatsgewalt dem Rechtsuchenden in der Gestalt des einzelnen Richters gegenüber tritt, geht es, will man den Hintergrund dieses Gewaltverhältnisses ausloten, vor allem um eine psychosoziale Analyse. Die Frage lautet:
inwieweit kann der Richter seine Omnipotenzgefühle und seine natürlich vorhandene Gegenaggressionsbereitsschaft kontrollieren und inwieweit ist er immun gegen äußerliche Abhängigkeiten?

Die ZPO als Verfahrensordnung zielt auf ein gerechtes Urteil. Sie regelt allerdings vor allem das Verhältnis zwischen den Parteien. Einen effektiven Rechtsschutz gegen den Richter bietet sie nicht (Voßkuhle: Rechtsschutz gegen den Richter, 1993). Für das Prozedere der Amtsermittlung im Falle richterlicher "Zweifel" an der Prozeßfähigkeit einer Partei verläßt der Richter die Rolle des neutralen Dritten und agiert, als handele sich um ein reines Offizialverfahren, obwohl es im Zivilverfahren grundsätzlich Sache der Parteien ist, die nötigen Beweise herbeizuschaffen. 

Bis heute ist die prozeßrechtliche Rolle des mit richterlichem Zweifel an seiner Prozeßfähigkeit überzogenen Klägers rechtssystematisch nicht eindeutig geklärt. So verwundert es auch nicht, daß im sog. Zulassungsstreit - Prozeßfähigkeit ist eine der Zulassungsvoraussetzungen - keine die betroffene Partei schützende gesetzliche Regelung existiert, und man kann durchaus von struktureller Gewaltausübung im Sinne Galtungs reden. 1883 meinte Birkmeyer, daß der zu Entmündigende als "Wahrheitserforschungsmittel" nicht Subjekt, sondern Objekt des Untersuchungsverfahrens sei (Birkmeyer, Das Offzialverfahren im Civilprozess, Zs. f. Dt. Civilprozes, Bd.7, 439). Allerdings findet sich bei Birkmeyer auch der Hinweis, die Motive hätten ausdrücklich hervorgehoben, daß die Vorschrift des § 54 (heute § 56 ZPO) im öffentlichen Interesse getroffen sei. Dem gegenüber habe sich der Hannöversche Entwurf an dem französischrechtlichen System orientiert, nach dem diese Bestimmung "nur im Interesse dieser Personen selbst" getroffen sei (Birkmeyer, aaO., S. 177). 

Im Lichte der Grundrechte muß die Wehrlosigkeit des Betroffenen bei der richterlichen Prozeßfähigkeitsprüfung erhebliche Bedenken auslösen: Die Frage "Quis custodit custodes?" blieb bis heute unbeantwortet.  

Soweit bekannt, hat sich erst einmal eine international zusammengesetzte Kommission mit einem deutschen Fall der Psychiatrisierung in Anwendung des § 56 ZPO befaßt: siehe den Bericht der Sitzung des Menschenrechtsausschusses des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 23. Juli 2008. Festgestellt wurde immerhin:  
"dass die Anordnung, dass sich eine Person ohne ihre Zustimmung oder gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung oder Begutachtung zu unterziehen hat, einen Eingriff in das Privatleben darstellt und einer rechtswidrigen Beeinträchtigung ihrer Ehre oder ihres Rufes gleichkommen kann." 

Die Interaktion Staat-Bürger war und ist kaum Gegenstand bundesdeutscher Forschung. So war etwa die Thematisierung grundrechtsverletzender psychiatrischer Etikettierung zunächst Sache der Amerikaner (Labeling Approach). Demgegenüber wurden und werden im wissenschaftsgläubigen Deutschland die soziostrukturellen (ideologisch/ökonomischen) Abhängigkeiten insbesondere der medizinisch-psychiatrischer und psychologischer Experten gerne übersehen. Bezeichnend für die hier immer noch herrschende autoritäre Staatsgesinnung ist die Einengung des Blicks der 1987 von der Bundesregierung eingesetzten Gewaltkommission auf individuelle Gewalt (Michael Voß, Staatsschutz statt Bürgerschutz, in: Verdeckte Gewalt, 1990, 138ff ).  

Trifft die Jusitz und deren Gehilfen in Gestalt von Gutachtern auf Betroffene mit Background, so veranstalten diese einen beträchtlichen Rummel, bei dem sich professionelle und semiprofessionelle Akteure versammelten. Ein solches Spektakel veranstaltete z.B. der Prof. Dr. Aris Christidis. dem eine paranoid querulatorische Persönlichkeitsstörung bescheinigt wurde, siehe dazu folgende YT-Dokus:

Allerdings geht es hierbei regelmäßig um Gutachten von Psychologen, dabei jeweils um Sorgerechtsgutachten. Da erscheint die Hautevolee der Kritiker in dem Bericht der ÖRen Anstalten, also Prof. Klenner, Prof Jopt, Werner Leitner einerseits und die GWG- Salzgeber als Repräsentant der Psycho-Pfuscher andererseits. Problemfiguren wie Honorarprofessor Dr. mult. Fthenakis etwa bleiben außen vor. 

Ähnlich zahlreich in Sorgeverfahren sind die Berichte über die Rolle der Jugendämter.

Die hier behandelte Frage der unmittelbaren Verletzung der Menschenwürde mittels Mißbrauch des § 56 ZPO unter Zuhilfenahme von Psychiatern war dem gegenüber noch niemals Gegenstand öffentlicher, und schon gar nicht staatlicher Medien.




Empfehlenswerte Links zu Betroffenen-Initiativen:

(Studenten)-Kritik an NS-belasteten Marburger Professoren ( Villinger und Stutte): 
Zur "extrem eindimensionaldeterministischen", biologistischen Ansatz Hermann Stuttes siehe Prof. Wolfgang Jantzen (Bremen) 

sodann (einfacher zu verstehen):

Volkes Stimme (bayerisch-urich):