Normalität wird einem eingebrockt, man kann sie nur auslöffeln. (H. M. Enzensberger) Den "normalen" Menschen, den der "gesunde Menschenverstand", mehr töricht als gesund, als Richtschnur benutzen will, gibt es nicht. ( Alexander Mitscherlich ) I. Normal, gesund oder krank? Vorbemerkung: Grundsätzlich ist zwischen dem medizinischen und juristischen Krankheitsbegriff zu unterscheiden; bei beiden bleibt die interaktionistisch-soziologische Perspektive ausgeklammert. Nachfolgend geht es denn auch allein um die Beurteilung des durch abnormes Verhalten auffällig gewordenen Individuums durch staatliche Funktionsträger. Der Horizont des Juristen ist auf die Frage "vernünftigen" Verhaltens begrenzt, sein alleiniger Maßstab liefert somit die Kognition. Um ihm unverständliches Verhalten bewerten zu können, bedient der Richter sich der Hilfe eines psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen. Abnorm unvernünftiges Verhalten ist medizinisch auf körperliche Krankheit, psychologisch durch Feststellung der Nicht-Verstehbarkeit rückführbar (Witter, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd. I, 1972, 481, zuvor: Witter, Psychopathologie, Krankheitsbegriff und forensische Freiheitsfrage. In: Festschrift Kurt Schneider, 1962, S. 288-303; Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht, FS Richard Lange, 1976, 723-735). Sucht man nach den historischen Wurzeln, so stößt man auf einen Vortrag des Kieler Strafrechtlers Richard Lange: Der juristische Krankheitsbegriff, in: Beiträge zur Sexualforschung, 28.Heft 1963, 1-20: Lange schwimmt im engen Fahrwasser des psychiatrischen Krankheitsbegriffs Kurt Schneiders. Eine Übersicht über die neuere Entwicklung gibt: Karlhans Liebl, Kriminologie im 21. Jahrhundert, Bis heute dürfte jedoch gelten: Der Jurist gewinnt seinen Rechtsbegriff vom "Kranheitswert" über den Verständnishorizont des beauftragten Psychiaters, der den Sinnzusammenhang in seiner Weiterung zur "Sinngesetzlichkeit" (Witter, 1962, 296) ergründen will. Witter setzt sich zwar mit dem Einwand der "subjektiven Gebundenheit des Verstehens" auseinander, jedoch betont er, daß sich das Kriterium der Verstehbarkeit "im praktisch Klinischen" als von großer Verläßlichkeit erweist. Qualitativ abnorme - also krankhafte - psychische Erscheinungen sind "nach Inhalt und Form uneinfühlbar und unverständlich". (Witter, FS Richard Lange, 1976, 729) Die Begrifflichkeiten, so auch der Begriff 'Krankheitswert', sind zwar im Straf-, Sozial- und Zivilrecht die gleichen: Wird von seelischen Störungen 'von Krankheitswert' gesprochen, handelt es sich jedoch nicht etwa um krankhafte Zustände im medizinischen Sinne, sondern es geht dem Juristen allein um die Gewichtigkeit, also Stärke, genauer um den Grad der Normabweichung (Norm als das Durchschnittliche, nicht etwa als das Wünschenswerte verstanden: das Mittelmäßige ist also das Normale), die zu einer Einschränkung des "subjektiven Wohlbefindens, der Leistungsfähigkeit oder der sozialen Anpassung" und damit zu einer - rechtlich erheblichen - Einschränkung (etwa im Erwerbsleben) führen kann (Witter, NJW 1964, 1167). Witter beschreibt das Erkenntnisverfahren als Zirkelschluß: Im Sozialrecht etwa werde "irgendwie" die "Fähigkeit des Anderskönnens" - also die Verantwortlichkeit des Neurotikers für seine Störung - abgeschätzt und so der "Krankheitswert" bestimmt. Es werde also von fehlender Verantwortlichkeit auf einen Krankheitswert geschlossen. Umgekehrtes gelte im Strafrecht (in dem der Jurist über die Rechtsfolgen zu entscheiden hat): Dort werde vom Krankheitswert auf fehlende Verantwortlichkeit geschlossen (aaO., S. 1168). Später kommt Witter auf diese Frage zurück: Der Rechtsbegriff der Schuldfähigkeit basiere auf der "Unterstellung" der Willensfreiheit bzw. des "Anders-Handeln-Könnens" (MschrKrim 1983,255ff). Der Richter schreibe dem Täter durch einen wertenden Akt ggf. Einschränkungen der Schuldfähigkeit zu, der psychologisch-psychiatrische Sachverständige liefere dem Richter mittels Persönlichkeitsdiagnostik und Motivationsanalyse das "Material". Auch im Zivilprozeß könnte - und sollte - es aus 'psychiatrischer Sicht' allein darum gehen, ob der Proband sein Prozeßverhalten auch hätte anders steuern können, Steuerungsfähigkeit als "Fähigkeit zum einsichtsgemäßen Handeln" (Witter, 1983, 260). Auch v. Baeyer fragte - richtigerweise - im Falle des Dr. Weigand, ob dieser "auch anders gekonnt" hätte. Nach Danner (Gibt es einen freien Willen?, 3. Aufl. 1974, 148) müßte die Frage lauten: "Hätte er sich anders entscheiden können?", denn es geht um die Frage der Wahlfreiheit. Grundsätzlich stehen sich Agnostizisten und Deterministen gegenüber, analog der Perspektiven der - pessimistischeren - Statiker, die von einer dominanten Erbdeterminierung ausgehen sowie der - optimistischeren - Dynamiker (Interaktionisten, Analytiker usw.) Beide Beurteilungsperspektiven, die des Juristen und die des Psychiaters, sind - wie Sein und Sollen - inkompatibel, so daß sich die Frage stellt, inwieweit Psychiater sich zum Handlanger der Justiz machen, gemäß folgender Einschätzung: "Für die Richtigkeit der meisten bei einer psychiatrischen Begutachtung tatsächlich bedeutsamen Ergebnisse gibt es keine objektiven Kriterien. Sie werden wesentlich bestimmt durch Selbstverständnis, Weltanschauung, Erfahrung, theoretischen Ansatz und Schule1 des Gutachters. Der Richter muß in eigener Verantwortung entscheiden, welche Gutachten er für brauchbar hält und welche nicht." (Rasch, Richtige und falsche Gutachten, MschrKrim, 1982, 264) Die Lösung der Juristen erfolgt über eine einfache Dichotmonie: krank oder gesund. Neuerdings, als Einfluß der dynamischen Perspektive, beziehen sie - zusätzlich - neben psychiatrischen auch psychologische Anormalitäten - konkret: Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen - in ihren Krankheitsbegriff ein. Diese gelten allerdings n u r dann als relevant, wenn sie "schweren" Grades, d. h. "von Krankheitswert", sind. Die psychischen Anomalien müssen also aufgrund des maßgebenden Kriteriums der Schwere einer echten psychiatrischen Erkrankung "gleichwertig" sein. Im BGH-Urteil vom 12.6.2008 etwa heißt es denn auch: ... wenn sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt und Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen. Die Grenzziehungen bei Straf- und Zivilrecht unterscheiden sich aber ganz erheblich: a) Im Strafrecht liegt die Meßlatte zwischen krank und gesund höher. Ursächlich ist der gesellschaftlichen Druck in Richtung auf Bestrafung. Geht es um Bestrafung, gelten Psychopathen, abgesehen von wenigen Ausnahmen mit 'Krankheitswert', als steuerungs- und damit schuldfähig. Psychopathen werden zwar als gefühlskalt, selbstsüchtig-egozentrisch oder, wie im aktuellen Fall der Heidi Külzer, eben als "histrionisch2 gestört" klassifiziert, jedoch als (noch) nicht krank bewertet. Im harten Geschäftsleben wird ein gewisses Maß an Psychopathie neuerdings sogar positiv bewertet, siehe WELT v. 1.8.2013. Für die Strafjustiz ist und bleibt bislang jedoch der Topos "von Krankheitswert" konstitutiv, die Frage der Ex- bzw. Dekulpierung stellt sich nur bei hohen Graden, denn aus Menschen dieser Beschaffenheit "rekrutieren sich ja die Schwerverbrecher überhaupt" - Sarstedt stellte die bezeichnend simple Frage: "Lag es am Charakter, oder lag es an einer Krankheit?" (Die Justiz 1962, 117, 115). "Früher waren Persönlichkeitsstörungen Charaktereigenschaften" und jetzt sollen es auf einmal Krankeitszeichen, Krankheitsdiagnosen sein ... (Weinberger in RT: Als verrückt abgestempelt - Psychiatriemissbrauch als Waffe) b) Niedriger liegt die Meßlatte im Privat-, Familien und Verwaltungsrecht, denn hier geht es nicht um Bestrafung sondern "nur" um Exklusion. Mittels Absprechen der Prozeßfähigkeit verfolgt die Justiz, auch wenn sie sich scheut, dies zuzugeben, weit weniger öffentliche, als Eigeninteressen: Vorgeblich geht es zwar um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Institution Gerichtsbarkeit und damit um öffentliche Belange. Tatsächlich jedoch geht es eher um das Pro domo: Ohne Blick auf den Eigenanteil der Institution Gerichtsbarkeit werden "notorischen" Querulanten gern leichtfertig Neurosen "von Krankheitswert" zugemessen und ihnen so ihr Grundrecht auf Justizgewährleistung genommen. Nicht selten also neigt sich die Waage zwischen öffentlichem und individuellem Interesse zur falschen Seite. Besonderen Aufschluß bieten solche Fälle von "Justizquerulanz",
in denen partielle Prozessunfähigkeit bei anerkannt hoher
Intelligenz - siehe den Fall Zimmermann - festgestellt wurde. Es bedarf nicht, wie im Strafrecht, der Feststellung einer Geisteskrankheit, sondern es reicht eine "Persönlichkeitsstörung von Krankheitswert". Dabei handelt es sich um einen Rechtsbegriff, der praktischen Bedürfnissen erwuchs. Gemeint ist die Abwehr eine "an sich funktionsgerechte Ausnutzung der Rechtspflege" seitens querulatorischer Kläger, siehe Baumgärtel, ZZP 1973, 369. Baumgärtel entdeckte anno 1973 bei "echten Querulantenklagen" ein "bisher unerforschtes Gebiet", auf dem er seit Jahren eine "Rechtstatsachenuntersuchung" betreibe. Bis heute hörte man diesbezüglich nichts mehr von ihm - und ebensowenig seitens anderer Wissenschaftler. Zugegeben: Das Thema ist wenig appetitlich und liegt außerhalb des Interessenspektrums der Institution, jedenfalls so lange, wie diese sich des § 56 ZPO zur Entsorgung unbequemer "Kunden" bedienen kann. Diese Grundeinstellung bundesdeutscher Durchschnittsrichter ist selbstverständlich nicht grundgesetzkonform, indes: es existierte zunächst kein (!) effektiver Rechtsschutz gegen den Richter, siehe Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter /Diss., München 1993). Diese Lage wurde durch den Plenumsbeschluß des BVerfG vom 30.4.2003 zumindest dadurch aufgeweicht (s. Besprechung Voßkuhles, NJW 2003, 2193-2200), daß im Falle einer behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs durch ein Gericht der Justizgewährleistungsanspruch greifen muß, also der Rechtsweg offen steht. Voßkuhle bleibt jedoch skeptisch.gegenüber dem Institut der "Anhörungsrüge". Rechtliches Gehör beinhaltet jedoch auch das Recht zur Stellungnahme. Gegenüber einer substanzlosen "Begründung" kann aber kein Gehör gewährt werden. Einzig denkbare Abhilfe in derartigen Fällen böte eine verfahrensrechtliche Korrektur (sofortige Beschwerde gegen substanzlose gerichtliche Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Partei). Wie schmal der Grat zwischen normal und krank, wie willkürlich die Entscheidung zwischen diesen beiden Begriffen ist, zeigt die Problematik der Zwangseinweisungen, siehe: "Endstation Klapse". Der Mißbrauch des Begriffs "Störung" als Rechtsbegriff zeigt sich besonders bei der Grenzziehung zwischen prozeßfähig und prozeßunfähig, denn im Recht geht es nicht um Krankheit im medizinischen Sinne, sondern um eine "irgendwie geartete geistige Anomalien" (unabhängig von deren medizinischer Einordnung), die rechtliche Folgewirkungen entfalten, sei es bei Zweifeln an der Geschäftsfähigkeit oder eben, wie hier, bei Zweifeln an der prozessualen Geschäftsfähigkeit = Prozeßfähigkeit. Anomalität - pejorativ: Abnormalität - ist juristisch Synonym für Nichtangepaßtheit. Es gibt also geistesgesunde u n d geisteskranke Querulanten. Die Justiz wünscht sich den Idealfall des Normopathen. Wo die Toleranzgrenze liegt, bestimmt allein der Richter und nicht etwa sein Helfer, der Psychiater. Es ist wenig hilfreich, wenn etwa Wieczorek zu bedenken gibt, "daß die Grenze vom noch Normalen zum Anormalen schwer zu ziehen ist." Orientierung liefert letztlich allein die Rechtsprechung, d. h. der Fundus spezifischer Einzelfallentscheidungen. Jeder Richter, will er Willkür vermeiden, kann sich (und hat sich) also an den in der Rechtsprechung entwickelten Grenzziehungskriterien zu orientieren. Aufgrund der in den Urteilen auftretenden Komplexität, begrifflichen Unschärfen sowie der üblicherweise mangelhaften Trennung zwischen Tatsachen und Wertung ist dieser Fundus allerdings umso schwerer faßbar, als daß ein neuer Einzelfall in seiner Komplexizität in Beziehung zu den im Fundus enthaltenden Indizien und den daraus abgeleiteten Wertungen gesetzt werden muß. II. Psychopathie oder Störung? Was die Geisteskrankheiten angeht, kommt medizinisch-psychiatrisch bei Justizquerulanten eine "isolierte paranoide Störung" infrage. Specht plädierte nicht für den klinischen Namen "Querulanten-Paranoia", sondern für "Querulanten-Manie". Kennzeichnend sei eine "krankhafte Eigenbeziehung", gekennzeichnet durch eine verbissene Mißtrauensstimmung, leichte Reizbarkeit (= starke Affekterregbarkeit) sowie eine Neigung zur Vereinsamung, verbunden mit einem gehobenen Selbstbewußtsein (Klüber, 1931, 155ff). Bis heute gilt: Entscheidungsmaßstab für die Grenzziehung zwischen krank und (noch) gesund war und ist - juristisch - allein der Grad der Störung. Die Wertung einer Störung als leicht, mittelschwer oder schwer ist Sache des Gerichts, denn es handelt sich um eine reine Rechtsfrage - in der Praxis stützt sich der Richter jedoch wohl zumeist auf den Gutachter, der direkt oder subtil die Weichen stellt. So kann ein Kläger beispielsweise "eine gesteigerte rechthaberische - sich noch im Rahmen der Gesundheit haltende - Uneinsichtigkeit und Querulanz" zeigen oder doch an einer bereits "krankhaften" Querulanz in einem partiellen Bereich (z.B. im Kampf um ein Grundstück) leiden. Erstmals spricht das BVerwG am 29.12.1958 von "beschränkter Form krankhafter Querulanz". Diese Linie wird bis heute fortgeführt, siehe nur das VG Frankfurt (Oder) am 01.09.2011. Zu den Persönlichkeitsstörungen: Die diesbezügliche Begrifflichkeit basiert bis heute auf Kurt Schneiders angeblich wertneutraler Definition des sog. "Psychopathen" (K. Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 1923) und der zugehörigen Typologie, nach Schneider ein offenes, d. h. beliebig erweiterbares System. Die Abgrenzung zwischen Charaktermängeln (neurotische Überempfindlichkeit) und Geistesstörungen geht, auch wenn nicht genannt, auf Kurt Schneider zurück, siehe etwa das BGH-Urteil vom 7.6.19665, StR 190/66 (NJW 1966, 1871), in dem ein "sensitiver Querulant aus verletztem Selbstwertgefühl mit neurotischer Überempfindlichkeit gegen Beeinträchtigungen" als "Charaktermangel" festgestellt wurde, der im Grunde "eine weiche, selbstunsichere, ichbedachte Persönlichkeit" sei. Dies habe zu gesteigerter Rechtsquerulanz geführt. Erst 1980 wurde der Begriff Psychopathie durch "Persönlichkeitsstörung" ersetzt und lebt in ICD-10 (F- 60.0 ff) fort (s. u.). Gleichwohl sind auch die heutigen diagnostischen Begriffe und Kriterien weder einheitlich, noch überschaubar; vor allem: sie sind ständig im Fluß. Ganze Krankheiten wurden (so z. B. im 19.Jh. der "Religionswahnsinn", heute spricht man von "Jerusalem-Syndrom") oder wurden neu erfunden und verschwanden (Beispiel: Homosexualität) wieder mit einem Federstich. Im heutigen DSM / ICD siehe nur die "Krankheit" ADHS. Der Grund ist simpel: Mit den Kategorien sind keinerlei ätiologischen Zuordnungen verbunden, sie dienen allein der Verständigung. Allein zwecks internationaler Verständigung mittels Kodifizierung und Operationalisierung entwickelte man also die beiden heute gebräuchlichen Klassifikationssysteme, nämlich sowie In Dissertationen (Beispiel) wird gleichwohl von "operationalisierten Diagnosesystemen" gesprochen, was, wie gesagt, zu Mißverständnissen führt, denn: beide Systeme zielen ausschließlich auf Verständigung, sie sagen nichts (!) über die Zuordnung von Symptomen zur Diagnose bzw. die Wahl der diagnostischen Hilfsmittel aus, welche in den Entscheidungs-, bzw. Verantwortungsbereich des einzelnen Arztes fällt. Viele Psychiater sehen zu Recht in der Orientierung an den Klassifikationssystemen die Gefahr unzulässiger Vereinfachung und Einengung. So entstehen etwa Mißverständnisse, wenn Probanden, die als "akzentuierte Persönlichkeiten" gemäß der ICD-10 -Typenbeschreibungen3 eingestuft wurden, in der Folge als pathologisch "gestört" bewertet werden, siehe dazu das DSM-kritische Buch Allen Frances, das soeben auf den deutschen Buchmarkt kam. Schon in den Begrifflichkeiten bestehen Unterschiede bei den Klassifikationssystemen: So enthält das amerikanische DSM psychoanalytische Begriffe (hier insbesondere den Typ der "narzistischen" Persönlichkeitsstörung), die in der an Kurt Schneider angelehnten ICD fehlen. Merke: Nicht selten werden die Klassifikationssysteme von Gerichten als wissenschaftlich fundierte Diagnostik von Psychopathien mißverstanden. In solchen Fällen können sich Sachverständige, vom Richter unhinterfragt, in ihren Gutachten des jeweiligen Manuals insbesondere mit der Zuschreibung querulatorische Persönlichkeitsstörung gemäß ICD-10, F 60.0 oder gar anhaltende wahnhafte Störung (Querulantenwahn) nach ICD-10 F 22.8 schein-"diagnostisch" bedienen, und insoweit dem Richter - gänzlich ohne weitere Erläuterungen und Ableitungen - bestes Wissen vortäuschen. Gleichwohl ist die Diagnose "anhaltende wahnhafte Störung im Sinne eines Querulantenwahns" gängige Praxis. Der deutsch-konservative Psychiater Friedrich Weinberger vermochte seine gleichlautende Kritik "nur" in rt - der fehlende Part anzubringen (s. zweite Hälfte). Dem versuchte der BGH (allerdings beschränkt auf das Strafrecht) entgegen zu steuern, siehe den Beschluß vom 19.3.1992, 4 StR 43/92 (StV 1992, 316), wo er feststellt, daß "die Klassifikation bestimmter Krankheitsbilder durch die WHO in erster Linie der Definition und Registrierung" diene. Anmerkung: Interessanterweise erwähnt der Senat, daß die in beiden Kodifikationen (gemeint ICD und DSM) enthaltenen Definitionen von Persönlichkeitsstörungen "inhaltlich und strukturell" weitgehend - anhand eines Merkmalskatalogs - mit den klassischen Psychopathiedefinitionen Kurt Schneiders übereinstimmen (Eine kritische Distanz zu Kurt Schneider läßt der Senat jedoch leider vermissen). Der ausführliche Beschluß fährt fort, daß der Tatrichter gehalten sei, im Wege einer "besonders sorgfältigen" umfassenden Gesamtbetrachtung (Vorgeschichte, Anlaß, Ausführung und Verhalten vor und nach der Tat) den Schweregrad der seelischen Störung zu prüfen (gemeint: zu bestimmen). Sodann weist der Senat auf das richtige Verständnis des Merkmals der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" (§ 20 StGB) hin, die gerade nicht pathologisch bedingt sei. Abartigkeit meint Psychopathie und ist als solche keine krankhafte Störung der Geistestätigkeit. Im Strafverfahren führt sie nicht zur Exkulpation, im Zivilverfahren kann "Abartigkeit" im Sinne von Abnormität zur Prozeßunfähigkeit, d. h. zur Exklusion führen. In einem weiteren Beschluß bekräftigt der BGH, daß eine "Diagnose" nach ICD-10 den Tatrichter nicht davon entbindet, "konkrete Feststellungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen und ihre Auswirkungen auf die Tat darzulegen" (BGH, 2.4.1997, 2 StR 53/97, R&P 1997, 182). Hier nun zeigt sich die Parallele: Querulation kann pathologisch und nicht pathologisch sein. Entscheidend für die Frage der Prozeßfähigkeit ist jedoch - wie im Strafrecht - der Grad bzw. das Ausmaß der Störung. Gesetzlich wird vermutet, daß jeder im Rechtssinne mündige Bürger Geschäfts- und damit Prozeßfähig ist. Wenn es zutrifft, daß mindestens jeder Zweite an irgend einer Neurose leidet, sind Neurosen bis zu einer gewissen Grenze "normal". Haller statuiert, daß ein Explorieren und Erkennen psychopathologischer Symptome die Kenntnis des psychischen Normzustandes voraussetzt (Reinhard Haller, Das psychiatrische Gutachten, Wien 1996, S. 8, 10). Unerwähnt läßt Haller allerdings, daß insbesondere der psychosoziale Normzustand von der Mehrheitsmeinung der jeweiligen Gesellschaft abhängt. Haller vermeidet es, sich mit der zentralen Frage auseinander zu setzen: In der Gerichtspraxis ist Einschätzung dessen, was als "normal" gilt, mehr sozio-politisch bestimmt als statistisch. Die statistische Norm besagt, daß das normal ist, was sich innerhalb einer bestimmten
Population innerhalb von einer Standardabweichung um den Mittelwert bewegt. Ist z. B. der mittlere IQ in der Durchschnittsbevölkerung =
100 und bestimmt sich die Standardabweichung mit 15, so befindet sich derjenige mit seiner Intelligenz im statistisch "normalen" Bereich, der sich in einem Bereich zwischen 85 und 115
bewegt. Derartige Aussagen mögen Sinn geben und Nutzen bringen, wenn es um eine einzige, mathematisch zu bestimmende Größe geht, etwa die Körpergröße. Die Kautschukbegrifflichkeiten von Psychiatrie und Sozialwissenschaft in Verbindung mit der Jurisdiktion, die sich auf die Wertewissenschaft Rechtstheorie gründet, sind für mathematisch-statistische Entscheidungshilfen jedoch gänzlich ungeeignet in Worten H. S. Beckers: "einspurig und trivial" (Aussenseiter,1981, S. 4). Kurt Schneiders unreflektierte Bezugnahme auf das statistische Mittel meint den Grad an Anpassung (oftmals eher: Grad an Unauffälligkeit) und ist zutiefts antihumanistisch. Normsetzungen in der Frage gesellschaftlichen Störens sind in erheblichem Maße variabel, in Abhängigkeit von der communis opinio und dem individuellen Entscheidungshorizont des jeweiligen Sachverständigen/ Richters. Wazlawick sagte zu Recht: Zur Feststellung einer psychischen Pathologie müßte man wissen, was menschliche Normalität ist. Diese Frage jedoch sei eine philosophische, mithin fiktive. III Quantität oder Qualität? Häufig treten Qualität und Quantität normabweichenden Verhaltens gemeinsam auf. Als Faustregel für "ernsthafte" Zweifel an der Prozeßfähigkeit läßt sich daher folgender Grundsatz zahlreicher strafrechtlicher Bundesgerichtsentscheidungen der Schweiz in das Zivilrecht übernehmen: "Zweifel an der Schuldfähigkeit besteht dann, wenn der Täter in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fällt und/oder seine Geistesverfassung nach Art und Grad stark vom Durchschnitt abweicht." 'Art' steht hier für Qualität, 'Grad' für Quantität. Blau wendet sich gegen die Annahme fließender Grenzen und fordert einen "qualitativen Sprung" von den sozial auffälligen Praktiken eines Sonderlings bis zur 'Abartigkeit', dies freilich bei der Diskussion des § 20 StGB (Günter Blau, Paraphrasen zur Abartigkeit. In FS W. Rasch, 1993, 120). Der 'qualitative Sprung' könnte und sollte auch die Grenzbestimmungslinie bei der Frage der Prozeßfähigkeit sein. Der medizinische Krankheitsbegriff unterstellt nämlich, daß Krankheiten qualitativ unterschiedliche Zustände mit jeweils eigener Ursache sind, man spricht daher, je nach Ursache, von "Krankheitseinheiten". Die "Krankhaftigkeit" seelischer Störungen - d. h. die qualitative Abnormität - wird an der Nicht-Verstehbarkeit festgemacht, ein psychologisches Kriterium, das auf Karl Jaspers zurückgeht und für Kurt Schneider konstitutiv war. Nach Haddenbrock erlauben diese "psychopathologischen Kriterien" (Verstehbarkeit) Psychiatern auch unterschiedlicher Schulen diagnostisch "relativ scharfe" und "ziemlich einheitliche" Grenzbestimmungen zwischen "qualitativ-abnormen echten Krankheitszuständen (wie z. B. einen schizophrenen oder manisch-depressiven Zustand)" und "psychologisch ableitbaren quantitativ-abnormen Erlebnisreaktionen (Neurosen i. w. S.)" (Siegfried Haddenbrock, Die juristisch-psychiatrische Kompetenzgrenze, ZStR, 1963, 476). In der Unbestimmtheit (und Offenheit) psychiatrischer Begriffsdefinitionen und Kategorien in Verbindung mit dem Mangel an Abgrenzungskriterien liegt nicht nur die "Stärke" der Psychiatrie sondern auch ihre Gefährlichkeit. Diese wächst ins schier Grenzenlose, wenn sie sich auch noch mit der freien Beweiswürdigung des Richters paart. Zunächst geht es um die Kategorie, sodann aber um die Dimension einer Erkrankung. Fragwürdig dabei ist die Diskussion um quantitative und qualitative Bewertung von Normabweichungen im Verhalten. Die Fragwürdigkeit liegt darin, daß aus Richtersicht zu allermeist die Quantität (die der Richter als Störung des "knappen Gutes" der Rechtspflege begreift) im Vordergrund steht, während aus psychiatrischer Sicht Quantität eher ein sekundäres Merkmal für Pathologie ist, jedenfalls dann, wenn man die (umstrittene) Jaspers'sche Dichotomie zwischen "Verstehen" und "Erklären" zugrunde legt4. Umso erstaunlicher erscheint ein Beschluß des OLG Frankfurt vom 6.3.1079 - Az.: 3 Ws 9-25, 84-85/79, in dem es u.a. heißt: "Die Böswilligkeit des Ast. ist für sich allein kein hinreichender Grund für die Verweigerung des Rechtsschutzes ..." , ein Strafgefangener hatte die Strafvollstreckungskammer in "querulatorischer Absicht" mit Anträgen überhäuft und diese Absicht auch noch bekundet: "Es ist mir gelungen, die Justiz in Frankfurt auf die Krie zu zwingen". Der Senat hielt den Maßstab der Quantität gerichtlicher Eingaben für die Zulässigkeit einer Klage für völlig irrelevant -ebensowenig zweifelte es an der Prozeßfähigkeit des Querulanten! Die Psychiatrie interessiert sich demgegenüber nurmehr für qualitativ abnorme Reaktionen. Noch heute dürfte gelten, was Hitzig 1895 zu Papier brachte: " ... es muß, abgesehen von dieser Zahl nachgewiesen werden, daß er thatsächlich geisteskrank ist. Die Zahl seiner Schriftsätze hat damit sehr wenig zu thun. Eine einzige verrückte Eingabe kann Alles und 100 vernünftige Eingaben brauchen gar nichts für die Annahme einer vorhandenen Geistesstörung zu beweisen." (Eduard Hitzig, Über den Quärulantenwahnsinn, 1895, 136) Dieser eigentlich simple Erfahrungssatz fand aus verständlichen Gründen bei Gerichten kaum Gehör, denn diese leiden vor allem unter der Quantität von Eingaben. Normalerweise wird Quantität von den Gerichten - im Falle des Verf. war dies allerdings anders - nicht durch Pathologisierung, sondern allenfalls mittels Qualifikation als Schikane abgewehrt: siehe das Urteil des AG Bielefeld vom 1.6.2001. Hier hielt das Gericht den Querulanten offensichtlich für gesund, um die fristlose Kündigung als rechtens auszuurteilen. Das LG Bielefeld bestätigte denn auch das Urteil mit Beschluß vom 26. Juli 2001. Das Strafrecht fordert vom Gutachter bei seelische Abnormitäten und Krankheiten eine Schweregradbestimmung, d. h. insoweit eine Quantifizierung, also eine dimensionale Darstellung der Störung, als Grundlage für das Gericht, wenn es über die Schuldfähigkeit zu entscheiden hat. Es interessiert in diesem Zusammenhang nicht die Quantität der Straftaten, auch letztlich nicht die Kategorie der Erkrankung oder der neurotischen Störung "von Krankheitswert", sondern allein deren Schweregrad zwecks finaler Grenzziehung. Das OLG Hamm zeigte eine erfreulich kritische Distanz, wenn es konstatierte: "Keine
genauen Aussagen werden in diesen diagnostischen Einordnungsmanualen zur Frage gemacht, wann überhaupt irgendeine psychische Störung bei
einem Menschen vorliegt und wann ein normabweichendes Verhalten
lediglich als Variante eines Verhaltensstils zu betrachten ist. In
diesem Zusammenhang kann die Betrachtung der Frage hilfreich sein,
unter welchen Voraussetzungen ein Mensch überhaupt als krank zu
bezeichnen ist, und zwar auch in somatischer Hinsicht." (OLG Hamm, 9.6.2011)
Im Zivilrecht geht es zwar gleichfalls um den Schweregrad der Persönlichkeitsstörung, zugleich aber auch um deren Umfang, denn es wird angenommen, daß sich die Störung nur in einem Themenkreis, als "partiell", auswirken kann, eine Annahme, die wohl eher von praktischen Bedürfnissen (Entlastung der Justiz) geleitet sein dürfte. Allerdings kann sich - sicherlich nicht selten - Quantität auch mit mit "Sinnleere" verbinden, wie im Falle eines schließlich 66 Jahre alten Querulanten, der vermeinte, zu Unrecht als erwerbsunfähig erklärt worden zu sein: LSG Hamburg (Entscheidung vom 26.11.2013). Auffallend ist, daß´diese sicherlich im Ergebnis richtige Entscheidung stärker die Quantität betont, als die Qualität. Der Senat hätte gut getan, die sich erst aus dem Zusammenhang von Qualität und Quantität erschließbare Pathologie herauszustellen - denn es ging wohl um mehr als nur um Intensität und Dauer, wenn er feststellte: Eine sachliche Erörterung des Sachverhalts mit dem Kläger war nicht möglich ... Das LG Bonn, Berufungsurteil vom 1.7.2014 - 8 S 3126/13 - sieht in einer häufigen "Inanspruchnahme rechtsstaatlicher Konfliktlösungsmethoden" kein Indiz für die Erhebung von Zweifel an der Prozeßfähigkeit eines Klägers: "Der Inhalt der jeweiligen Eingaben in der Vielzahl der durch den Kläger geführten Verfahren - wie auch der Umstand, dass nicht wenige dieser Verfahren letztlich zu Gunsten des Klägers durch die Gerichte entschieden wurden - bestätigt vielmehr die grundsätzlich bestehende Vermutung der Prozessfähigkeit, da es sich regelmäßig um verständliche und strukturierte Eingaben handelte, die jeweils ein zumindest nachvollziehbares Begehren artikulieren." Eine klare Absage an das alleinige Argument der Quantität! III. Der Stufenfake. Sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht gilt für den forensischen Gutachter eine Zweistufigkeit bei der Beantwortung der Beweisfrage: Wen wundert's, auch das zweistufige Verfahren geht auf Kurt Schneider (1948) zurück (Sass/Kröber, in: Helmchen u.a. (Hg.), Allgemeine Psychiatrie, 1999,482). Die Transformation medizinischer in rechtliche Begriffe vollzieht sich folgendermaßen: 1. Stufe: Diagnose (Psychopathologie auf nosologischer Ebene) Befunderhebung, also psychiatrische Exploration einschließlich Aktenauswertung, und klinische Diagnose, die diagnostische Erfassung orientiert sich heute sprachlich an ICD-10, DSM-IV. Bereits hier beginnt die eigentliche Problematik: Oft findet man, was (gesellschaftsbezogen) gefragt wurde, anders formuliert: oft versagt die Differenzialdiagnose. 2. Stufe: Quantifizierung (in Hinblick auf die juristische Fragestellung) Zuordnung zu juristischen Kriterien (Einsichts- und Steuerungsfähigkeit), Subsumption unter den juristischen Krankheitsbegriff (im vorliegenden Zusammenhang: Prozeßunfähigkeit aufgrund Unfreiheit der Willensbestimmung). Es folgt - sowohl im Straf- als auch Privatrecht - die Bewertung der Funktionsbeeinträchtigung (Schweregrad). Nach Rasch (1993) wird (auf dieser Stufe) sodann der Ausprägungsgrad der die psychische Störung konstituierenden Symptome gemessen. Zu ergänzen wäre: In Hinblick auf die forensische Fragestellung. Wenn Sass/Kröber (op. cit.,483) schreiben, "Die Begutachtung unter der Fragestellung, ob eine bestimmte rechtliche Fähigkeit durch eine psychische Störung beeinträchtigt war obliegt dem Psychiater", dürfte dies eine Anmaßung sein, denn gerade die rechtliche Fähigkeit hat letztlich allein der Richter zu beurteilen - und kann dies auch nur, anders: wo die Grenzen liegen, entscheidet das Gericht. Der Psychiater agiert nurmehr als Richtergehilfe, nicht als Arzt, dessen Ethos auf Hilfe und nicht auf Selektion gerichtet sein sollte. Der Proband hat sicherlich Anspruch darauf, auf diese höchst unterschiedliche Funktion - vor Beginn der Begutachtung - hingewiesen zu werden. Daß Psychiater die Hilfe zur Selektion aus ethischen Gründen (wie einige humanistisch orientierte Psychologen in Sorgerechtsverfahren nurmehr Mediation statt Elternauslese betreiben wollen) abgelehnt haben, ist bislang nicht bekannt geworden. Vielmehr dienen Psychiater, wie eh und je, dem Herrn Richter beim Daumen-Senken, und handeln damit dem ärztlichen Ethos zuwider. Während nämlich die Übergänge zwischen „Gesundheit“ und „Krankheit“ für den Arzt fließend sind, gilt dies nicht für den Juristen, der nur zwischen prozeßfähig oder prozeßunfähig wählen kann und dafür den - vom Sachverständigen ermittelten - Schweregrad heranzieht. Über die Schweregradfeststellung kann der Psychiater allerdings maßgeblichen Einfluß auf das Ergebnis nehmen, womit klar ist, daß die Voreinstellungen des Psychiaters als Person mit entscheidend sind. Damit jedoch entpuppt sich die Schneider'sche Zweistufigkeit als pseudowissenschaftlich, denn es ist der untaugliche Versuch, zwei völlig unterschiedliche Begriffssysteme kompatibel zu machen: wenn die Frage in der ersten Stufe lautet: "Lag eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit vor?", in der zweiten Stufe: "Führte diese Störung zu einem Ausschluß der freien Willensbestimmung?", so sind beides im Kern juristische, nicht medizinische Fragestellungen. An beide wird letztlich der gleiche, subjektiv dehnbare, elastische Maßstab angelegt, nämlich der von der "allgemeinen Verkehrsauffassung" (Sass/Kröber, S. 485) über die Grenzziehung zwischen normal und annormal abgeleitet werden soll. Beide Stufen dienen der Grenzziehung, die aus dem Schweregrad abgeleitet wird, beide dienen der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe. Ist die Schneider'sche Zweistufigkeit also nicht ein Fake? IV Psychiatrie im Dienste der Rechtsprechung. a) Im Zivilverfahren geht es nicht um Schuld, sondern um Zugang zum, oder Exklusion vom Gericht. Zugangsvoraussetzung ist die prozessuale Geschäftsfähigkeit, die abgeleitet wird von § 104 BGB, wonach geschäftsunfähig ist, wer sich im (dauerhaften) Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, der die freie Willensbestimmung ausschließt. Der (Rechts-)Begriff 'krankhafte Störung der Geistestätigkeit' umfaßt "alle psychischen Krankheiten und Störungen, die das Urteilsvermögen und die Willensbildung erheblich stören, so daß eine normale Urteilsfindung oder Motivation auszuschließen ist" (Baljer in: Faust, Psychiatrie, 1995, 838) Der in Günzburg tätige Psychiater Baljer führt anschließend abstrakte Zitate aus Urteilen an, bei völliger Fehlanzeige medizinisch-diagnostischer Zuordnungen. Baljer konstatiert, daß es auch im Zivilrecht ausschließlich auf das Ausmaß, nicht auf die Art von psychischen Störungen ankommt und beginnt (dem entsprechend) seinen Beitrag mit dem Satz:"Forensische (gerichtliche) Psychiatrie ist Psychiatrie im Dienste der Rechtsprechung." Eine grundlegende juristische Definition "Störung der Geistestätigkeit" nach § 104 BGB findet sich im Urteil des Reichsgericht vom 15.12.1939 (RGZ 162, 228). Diese wird in nachfolgenden Urteilen folgendermaßen rezipiert: Unfrei ist derjenige, der wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Es geht bei der Geschäftsunfähigkeit also um die fehlende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgrund von Krankheit (krankhafte Empfindungen, krankhafte Vorstellungen und Gedanken) oder diejenigen weiteren Fälle, in denen sich die Betroffenen Einflüssen dritter Personen schranken- und hemmungslos hingeben und von diesen widerstandslos beherrscht werden. Dieser Zustand kann auch aufgrund von bloßer - d. h. nicht krankhafter - "Geistesschwäche" vorliegen. Im juristischen Sinne des § 104 Nr. 2 BGB besteht zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche nur ein Unterschied dem Grade nach (RGZ 130,69, Urteil vom 6.10.1930). Dem Straf-Juristen geht es bei den 'schweren anderen seelischen Abartigkeiten' - d. .h. bei den nicht somatisch begründeten Psychopathien - nicht um den Grund der Willensstörung, sondern allein um den Grad, (einschlägig: Krümpelmann, ZStW 88 (1976), 7-39; Schreiber, NStZ 1981, 46-51) aufgrund dessen er die Grenzbestimmung zwischen Willensunfreiheit und Willensfreiheit vornimmt. Gleiches gilt in der zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeitsfrage. Hier allerdings muß die Geschäftsunfähigkeit bewiesen werden, d. h., im Zweifel gilt der Proband als weiterhin geschäftsfähig. b) In der Frage der Prozeßunfähigkeit ist manches anders: Die hier relevanten Indizien wurden entscheidend nicht von der Psychiatrie entwickelt, sondern von der Justiz: - So benennt ein SGG-Kommentar (Meyer-Ladewig, 2008, § 71, Rz. 6a, unter Bezugnahme auf Klag und Dinger/Koch) "Anzeichen" für partiellen Prozeßunfähigkeit: aggressive Intensität, ungezügelte Art, riesiger Umfang der Prozessführungstätigkeit, Einbeziehung völlig verfahrensfremder Beteiligter, in keiner Hinsicht nachvollziehbare Geltendmachung von "Ansprüchen". - Der SGG-Kommentar von Hennig (2002) führt als weiteres Symptom an: verworrener Vortrag. Und der Hessische VGH kam zu folgender Differenzierung: "Wer nicht an einer gesteigerten rechthaberischen Verbohrtheit, die sich noch im Rahmen der Gesundheit hält, sondern an einem krankhaften Querulantenwahn5 leidet, ist in diesem Bereich partiell geschäftsunfähig und damit auch partiell prozeßunfähig." (VGH Kassel, Urteil vom 1.6.1967, V OE 13/67) - Baer fand in Urteilen weitere Indizien: Die Anrufung falscher und mehrerer Instanzen zugleich; Zahlreiche Hinweise auf Gesetze, Urteile und juristische Fachausdrücke; Verfolgung verfahrensfremder Ziele (Susanne Baer, Der Bürger im Verwaltungsrecht, 2006, S. 50).Derartige Indizien finden eine Parallele bei der Tätersuche mittels von Profilern erarbeiteten sogenannter Täterprofile, siehe Jens Hoffmann/Cornelia Musolff, Fallanalyse und Täterprofil, 2000, mit Bezugnahme auf die Psychoanalyse! Immerhin: Die Rechtsprechung kam allmählich zu der Erkenntnis, daß nicht allein die bloße Zahl von Klagen, sonder "vor allem" die Art und Weise der Prozeßführung auf eine Prozeßunfähigkeit - auch eines Geistesgesunden - hindeuten. Exemplarisch dafür: LAG Baden-Württemberg, 4 Sa 38/09 vom 05.11.2009, wo ein Musiker hunderte von gleichartigen Bewerberschutzklagen anstrengte und mit einer Unzahl von Rechtsmitteln, sowie Verfassungs-, Dienstaufsichtsbeschwerden und Ablehnungsgesuchen reagierte - und, obwohl geistesgesund, gleichwohl als prozeßunfähig erklärt wurde. Das AG Luckenwalde lieferte statt Tatsachen eine Reihe von Wertungen und Schlüssen als Begründung seiner Zweifel an der Verfahrensfähigkeit eines Vaters in einem FGG-Verfahren betr. Sorgerecht: "Die vom Ast zur Akte gebrachten Briefe zeigen auf, dass der Ast in einer notorischen Art sein Begehren verfolgt ohne Beachtung der ihm gegebenen Hinweise. Er zeigt auf, das er kein Maß eines vernünftigen Umgangs mit seiner Umwelt halten kann. Er stellt unhaltbare Behauptungen auf und beleidigt in seinen Schreiben. Die ständige Wiederholung in der vorbezeichneten Art zeigt auf, dass der Ast den Kern des Verfahrens nicht erfassen kann. Hiernach liegen Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit vor." Prozeßunfähig ist nach der Rechtsprechung derjenige, der unfähig ist zu "vernünftiger Einschätzung" bzw. "vernünftiger Überlegung", die sich in einer "sinnvollen Prozeßführung" ausdrückt. Kennzeichnend sei die Unzugänglichkeit gegenüber abweichenden Auffassungen und ein Beharren auf einer fixen Idee. Der Jurist sieht also starres, unvernünftiges Verhalten als Ausfluß von Willensunfreiheit an. Ihm obliegt es, die Grenze zwischen (noch) normal und (schon) abnorm zu bestimmen. Letztlich ist es dabei gleichgültig, was für dieses überdauernde Verhalten ursächlich war, ob etwa eine Neurose oder ein dominanter Einfluß eines Dritten, ähnlich einer folie a deux. Es mag ein Recht auf Krankheit geben, ein Recht auf Unvernunft vor Gericht billigt er nicht zu! Der psychiatrische Gutachter soll - und kann - demgegenüber aber nur die Frage beantworten, ob durch eine Krankheit die Fähigkeit zu vernunftgemäßen Entscheidungen aufgehoben ist. Der Beitrag des Psychiaters dürfte sich somit auf die Feststellung von Krankheit beschränken. Aufgabe des Psychiaters kann daher nur sein, klinische Diagnosen für Auffälligkeiten, die den Richter eine "geistige Störung" vermuten ließen, zu liefern. Der Geist vieler Justizquerulanten ist jedoch weder krank noch schwach, sondern es handelt sich für gewöhnlich um sogenannte Neurotiker, die dem Justizapparat lästig fallen. Die Justiz hat dafür denn auch den schönen Begriff "Krankheitswert" erfunden. Interessant dabei ist, daß Justizquerulanten nicht selten über fundierte Rechtskenntnisse verfügen und nicht selten Juristen oder Rechtspfleger sind. Regelmäßig sind es denn regelmäßig auch nur Rechtsanwälte, die vom Bundesverfassungsgericht mit Mißbrauchsgebühren belegt werden, da diesen "die Fähigkeit des Anderskönnens" unterstellt werden kann. Querulatorische Rechtsanwälte werden anererseits allerdings - als Organe der Rechtspflege - nur höchst selten mit Zweifeln an ihrer Prozeßfähigkeit überzogen. Fazit: Es sind also zwei Gruppen zu unterscheiden: psychiatrisch kranke Querulanten und Querulanten mit psychischen Störungen, im Extremfall "von Krankheitswert". Eine alternative Reaktion des Staates analog dem Strafrecht - hier besteht die Wahl zwischen Maßregelvollzug (= Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt) und Sicherungsverwahrung - erfolgt bei im Zivilverfahren als prozeßunfähig behandelten Klägern nicht, denn die - ggf. nur "partielle" - Exklusion bietet hinreichend Schutz vor weiteren Störungen der Rechtspflege. Da nun aber der Richter allein entscheidet, ob es überhaupt erforderlich ist, ein psychiatrisches Gutachten anzufordern und er in den ihm klar erscheinenden Fällen offensichtlich eingeschränkter Willensfreiheit darauf verzichten kann, ist nur im Falle richterlicher "Zweifel" eine Begutachtung zulässig. Damit sind wir bei der zentralen Frage angelangt: Zweifel sind nur dann berechtigt, wenn sie sich auf anerkannte ("bestes Wissen") Indizien - juristisch exakt: Indiztatsachen", siehe LAG Düsseldorf, 23.3.2007, 9 Sa 292/07, Rn. 63 - entweder auf psychiatrisch definierte Erkrankungen oder aber auf Neurosen von Krankeitswert stützen können. Indizien sind jedoch Tatsachen, die dargelegt werden könnten, was in aller Regel jedoch nicht hinreichend geschieht. Regiert da nicht das richterliche Allmachtgefühl in Verbindung mit einem unterentwickelten Respekt vor der Würde und Integrität der Mitmenschen? Festzuhalten ist folgendes: 1. Die Grenzen dessen, was als geistig gesund (normal) oder als krank resp. abnorm gilt, sind fließend, dies ganz besonders im Bereich der Neurosen (Holzhauer nennt sie "offene Flanken", FuR 1990, 251). Sie sind abhängig von der gesellschaftlichen Konvention, in totalitär regierten Systemen von einem von oben diktierten Maßstab ("gesundes Volksempfinden"). "Insistieren und repetieren" (Mählmann/Borck, Querulantenwahn. In: Schmiedebach, Entgrenzungen des Wahnsinns, 2016, S. 258) allein konnte und kann nicht ausreichen, denn Verhalten kann nur im Kontext beurteilt werden, insbesondere stellt sich dabei die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des drohenden Eingriffs in die Rechte des "Querulanten". Der Entscheidungsspielraum ist entsprechend groß. Was in dem einen gesellschaftlichen Umfeld noch normal ist, gilt im anderen bereits als abnorm. Der Psychiater Birnbaum erklärt "normal" als das "nicht näher bestimmbare, aber durch die Alltagserfahrung genugsam bekannte Mittelmaß der Gefühlsbetätigung, welches bei Durchschnittspersonen als Regel sich vorfindet (Carl Birnbaum, Über psychopathische Persönlichkeiten, 1909, S. 20). Was Mittelmaß und Durchschnitt ist, variiert somit entsprechend der persönlicher Erfahrung. Fatale Folge ist, daß die gerichtliche Kontrolle der Entscheidungsträger (Richter, Sachverständige) vielfach versagt. 2. Spezifisches Verhalten ist immer auch Ergebnis der Interaktion. Jeder Richter müßte daher selbstkritisch den Eigenanteil mit in den Blick nehmen - eine Fähigkeit, die wohl Seltenheitswert hat, denn Etikettierung gehört bei Richtern zum täglich Brot. Geht es um Werturteile über soziale Verhaltensmuster, hier Prozeßverhalten, so kann dieses nur aus dem Interaktionsprozeß richtig interpretiert werden. Wenn Caduff 6 die größere Anfälligkeit an Rechtsquerulanz im deutschsprachigen Raum auf die unterschiedlichen "Rechtsmilieus" bzw. auf den - gegenüber England - höheren Grad an Kodifizierung schiebt, so ist ihm ein völliges Übersehen des Interaktionsprozesses vorzuhalten: Caduff reiht sich damit in die große Mehrheit forensischer Psychiater ein, die im Schulterschluß mit der Justiz agieren. Ein viel zitiertes Beispiel7 psychiatrischer Fehldiagnose lieferte Watzlawick in dem völlig normales Verhalten einer Frau als Anzeichen akuter Schizophrenie gedeutet wurden. Zum aktuellen Stand der schwierig einzugrenzenden Schizophrenie-Definition siehe Scrobel. 3. Jeder, ob Richter oder Rechtsuchender, bringt ganz persönliche Voreinstellungen und Erwartungen vom Gegenüber mit. Dementsprechend kommt Sutermeister (SUMMA INIURIA - Ein Pitaval der Justizirrtümer, 1976, 742) zu der sicherlich richtigen Feststellung, daß gerade Michael-Kohlhaas-Naturen ganz besonders "rechtgläubig" sind. Bei karrieresüchtigen Richtern kommen sodann andere Einflüsse und Motive zum Tragen, siehe Joachim Hellmers Original-Artikel vom 16./17.8.1980 in der SZ, der sehr häufig rezipiert wurde, wie z. B. hier. Woran orientiert sich nun der Maßstab für Prozeßunfähigkeit? Wenn nun aber die allgemeine Geschäftsfähigkeit selbst noch bei hochgradigen Neurotikern erhalten bleibt, kann dann bei der Prozeßfähigkeit (= prozessuale Geschäftsfähigkeit) ein anderer Maßstab gelten? Bienwald (Kommentar zum Betreuungsrecht, 1994, 130) stellt fest: "Diagnosen, die in die Gruppe der Neurosen und Persönlichkeitsstörungen fallen, fallen als eine alleinige Grundlage für eine Betreuung gegen den Willen aus, denn bei diesen Krankheitsbildern ist die Geschäftsfähigkeit in der Regel erhalten." Zum Querulantenproblem äußert sich Bienwald (aaO., 1135) sehr vorsichtig: "Soweit die Rechtsprechung aus einem Querulantentum auf partielle Geschäftsunfähigkeit geschlossen hat, lagen im allgemeinen sehr spezifische Verhaltensweisen vor, die eine Verallgemeinerung nicht zulassen, von Vorbehalten gegenüber dem sogen. Querulantentum ganz abgesehen." Der Maßstab für Prozeßfähigkeit leitet sich - medizinisch (!) - vom Maßstab für die Geschäftsfähigkeit ab. Entsprechend müßte daher auch die Beweisfrage formuliert sein. Im Ergebnis kommen zwei Risiken für den Betroffenen zusammen. Zum einen das Risiko Psychiatrie, deren "Stärke" in der Unbestimmtheit ihrer Begriffe liegt. Zum zweiten das Risiko der Person des Richters: was abnorm ist, entscheidet dieser nach seiner 'Lebenserfahrung', die wiederum Ausfluß seines eigenen engen Horizontes ist8. Anmerkungen: 1 Bräutigam berichtet, daß ein neuer Direktor zu "dramatischen Veränderungen in der Diagnosehäufigkeit bei den Patienten führt (Reaktionen-Neurosen-Abnorme Persönlichkeiten, 6. Aufl. 1994, 223) - dies als Beweis, wie sehr die Qualität von der Person des SV abhängt. Konrad differenziert in nicht weniger als 8 "Beurteilungsmodelle" der forensischen Psychiatrie: 1. konventionsgeleitet 2. am klassisch-medizinischen Krankheitsbegriff orientiert 3. an der Somathopathologie und Verstehensgrenze orientiert 4. tiefenpsychologisch orientiert 5. an psychosizialen Auswirkungen orientiert 6. am Ausmaß der Verminderung der sozialen Handlungskompetenz orientiert 7. eklektizistisch-juristische Betrachtungsweise 8. psychopathologisch-eklektizistisch orientiert (Norbert Konrad,Der sogenannte Schulenstreit, 1995, S. 156 - 175) Die ersten drei klassischen Modelle (40% aller Gutachten) rekurrieren v.a. auf Kurt Schneider. Modell 4 ist psychoananalytisch bestimmt. Modell 5 leitet das Tatverhalten aus der umfänglichen biografischen Anamese her, angefangen von den Geburtsumständen, den Entwicklungsverzögernden Faktoren. Modell 6 liegt ein strukturell-sozialer Krankheitsbegriff zugrunde, umschrieben mit: krankhaft/krankeitswertig/krankheitsartig. Modell 7 schließt aus dem Tatverhalten auf die Frage der "Unterbrechung der Sinnkontinuität" (juristische Rezeption Kurt Schneiders). Schließlich orientiert sich das 8. Modell (als größte Gruppe: 30%) diffuser Kriterien/Ausschlußkriterien, z.B. in der Art des psychopathologische Referenzsystems von Saß (1991). 2 Eine solche Störung ist gekennzeichnet durch theatralisches, dramatisches Auftreten, das versucht, das übermäßige Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Bestätigung, Anerkennung und Lob zu befriedigen. 3 angelehnt an dem unseligen Kurt Schneider. 4 Die Erklären-Verstehen-Dichotomie datiert auf das Jahr 1913, in dem Jaspers in Heidelberg seine Probevorlesung (28 Minuten) über "Verstehen und Erklären in der Psychologie" hielt (s.a. Jaspers Allgemeine Psychopathologie von 1913). Es handelt sich um das (letztlich gescheiterte) Bemühen, die Psychiatrie mit philosophischen Mitteln zu einer Wissenschaft zu machen. Was man nicht "verstehen" - d.h. rational nachempfinden - kann, sucht man medizinisch zu "erklären", indem man an krankhafte Organprozesse denkt. Schließlich 'versteht' es sich von selbst, daß Verstehen an das Subjekt gebunden ist. Jaspers entlehnte die Dichotomie Erklären/Verstehen Diltheys Aufsatz aus dem Jahre 1894 (Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie). 5 "Der Quärulantenwahnsinn ist ja überhaupt keine Krankheit, sondern nur ein Syndrom, das aus verschiedenen Konstitutionen hervorgehen kann." (Bumke, Lehrbuch der Geisteskrankheiten, 1936, S. 289) Und zuvor bekennt Bumke: "Bei kaum einer anderen Krankheit sind die Grenzen gegen die Gesundheit so wenig scharf, und bei wenigen legt uns die Diagnose des Krankhaften eine so schwere Verantwortung auf." (aaO. S. 219). Bumke macht deutlich, daß krankhaft nicht das Querulieren, sondern der gelegentlich damit einhergehende paranoische Wahn ist. In den 1930er Jahren existierten für 'Querulantenwahn' zwei psychiatrische Theorien: Die eine Richtung sah ihn als primäre Verstandeskrankheit (Hitzig), die andere sah ihn als ererbte Charakterveranlagung, bzw. als Affektanomalie (Raecke) - Literatur: Klüber (1931). 6 Franz Caduff, in: Fortschr. Neurolog. Psychiat. 63 (1995), 504, 510 7 "Eine Frau aus Neapel, die in Grosseto zu Besuch war, wurde in einem Zustand akuter Schizophrenie ins städtische Krankenhaus eingeliefert. Da die psychiatrische Station nicht in der Lage war, sie aufzunehmen, wurde beschlossen, sie nach Neapel zurückzuschicken. Als die Männer der Ambulanz kamen und fragten, wo die Patientin sei, wurde ihnen gesagt, in welchem Raum sie warte. Als sie dort eintraten, fanden sie die Patientin auf dem Bett sitzend, vollständig angezogen und die Handtasche griffbereit. Als sie sie aufforderten, mit ihnen zum wartenden Krankenwagen hinunterzugehen, wurde sie erneut psychotisch, wehrte sich mit allen Kräften gegen die Pfleger, weigerte sich mitzukommen und zeigte alle Anzeichen von Persönlichkeitsverlust. Sie mußten ihr eine Beruhigungsspritze geben und sie zum Krankenwagen hinuntertragen, und dann fuhren sie mit ihr nach Neapel. Auf der Autobahn außerhalb von Rom wurde der Krankenwagen von einer Polizeistreife angehalten und nach Grosseto zurückgeschickt. Es hatte eine Verwechslung gegeben. Die Frau im Krankenwagen war nicht die Patientin, sondern eine Einwohnerin von Grosseto, die ins Krankenhaus gekommen war, um einen Verwandten zu besuchen, der sich einer kleinen Operation hatte unterziehen müssen. Wäre es übertrieben, wenn man sagt, daß der Irrtum ein klinische Wirklichkeit geschaffen (oder, wie wir radikale Konstruktivisten sagen würden, `konstruiert?`) hatte, in auch das `wirklichkeitsangepassteste` Verhalten jener Frau ein klarer Beweis für ihre »Verrücktheit« war? Sie wurde aggressiv, beschuldigte das Personal böser Absichten, begann Anzeichen von `Ichverlust` zu zeigen, und so weiter." (Paul Watzlawick/Giorgio Nardone: "Kurzzeittherapie und Wirklichkeit", 1999, S. 30-31) 8 "Lebenserfahrung" in der Charakterisierung einer Person, hier als psychopathischer Querulant, beruht auf sog. Alltagstheorien, die wiederum auf Vorurteilen und Stereotype gründen. Dazu der in den 70/80er Jahren führende forensische Pychologe Herbert Maisch: "Vorurteile und Strereotype sind in der Regel gefühlsmäßig unterbaute, meist negative Urteile, die eine erhebliche Argumentations-Resistenz besitzen." Hinzu tritt, so Maisch, die unheilvolle Allianz von "Halo-Effekt", "primacy effect"und Perseveranz (Vortrag in der Deutschen Richterakademie Trier 1974, NJW 1975, 566-570). Zum Rechtsbegriff "allgemeine Lebenserfahrung" siehe Ulrich Sommers "Lebenserfahrung - Gedanken über ein Kriterium richterlicher Beweiswürdigung, in FS Riess, 2002, 585-610. Die Verwandschaft des unbestimmten Rechtsbegriffes 'Lebenserfahrung' mit 'gesundem' Menschenverstand, der im NS-Staat zum "gesundem Volksempfinden" mutierte (Robert Bartsch, Das "gesunde Volksempfinden" im Strafrecht, Diss. Hamburg 1940), ist unübersehbar und gleichermaßen problematisch: alle öffnen das Tor zur Willkür. Beweisrechtlich verwandt und gleichermaßen ungeregelt ist der sog. "Anscheinsbeweis". empfohlene Links: Sie erhalten hier ein sehr fundiertes Vortragsmanuskript der Frankfurter Rechtsanwältin Gabriele Steck-Bromme aus dem Jahre 2009, die ein Parallelproblem zu der unverantwortlich leichtfertigen Psychiatrisierung durch die mißbräuchliche Anwendungspraxis des § 56 ZPO im Zivilprozeß, behandelt, nämlich "die gewaltige Keule des § 63 StGB", bei dem "die Büchse der Pandora einer Begutachtung" geöffnet wird. Parallelen sind ua.: Auch bei einem als prozeßunfähig erklärten Querulanten handelt es sich um einen "überdauernden Zustand", auch hier geht es um den Schweregrad, auch hier geht es um die Prüfung der Verhältnismäßigkeit, auch hier besteht die Gefahr, daß mit den Manualen des ICD-10 bzw. DSM-4 unsachgemäß umgegangen wird. Wenn z.B. der Heidelberger Psychiater Christoph Mundt vermeint, daß standartisierte Symptomchecklisten "auf eine die Subjektivität des Untersuchers eliminierende objektive Befunderhebung" zielten, so dürfte dies ein frommer Traum geblieben sein (Wundt, in den Fakultäten, in: F. Schneider, Entwicklungen der Psychiatrie, 2006, 308). Frau Steck-Bromme behandelt auch die oft entscheidende Bedeutung, die der Auswahl des Sachverständigen und dessen Qualifikation beikommt. 'öffentlich-rechtliche' Diskussion des Begriffs "Normalität": ganze Sendung: http://www.3sat.de/mediathek/index.php?mode=play&obj=43527 Literatur: - Josef Klüber, Ein kasuistischer Beitrag zu G. Spechts Lehre von dem Zusammenhang der chronischen Paranoia (Querulantenwahn) mit der chronischen Manie. Zs. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie, 1931, 152-170. - Nikolaus Petrilowitsch, Abnorme Persönlichkeiten, 1960; 1964; 1966- Gernot Huppmann, Zum Begriff der Norm in der deutschen Psychiatrie, med. Diss., 1975 (bei Prof. Wyss, Würzburg) (Die Arbeit spiegelt die Orientierungslosigkeit der Disziplin, die sich bis zum Aufkommen der Antipsychiatrie das Mäntelchen gesellschaftsneutraler Wissenschaftlichkeit umhängte, mit Kurt Schneider als Gallions-Figur.) - Karl Lackner, Prävention und Schuldunfähigkeit, FS f. Th. Kleinknecht, 1985, dort v. a. 256-259 - Grossenbach, Fromme Quergänger in der Psychiatrie (Religionswahnsinn), Werkstattgeschichte, 2002. - Heinz Schott / Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie, 2006 - Wolters, Abweichung und Normalität, 2012 - T. Rechlin,J. Vliegen, Die Psychiatrie in der Kritik: Die antipsychiatrische Szene und ihre Bedeutung für die klinische Psychiatrie heute, 2013 - Allen Frances, Normal, 2013 aktuelle Links zum Kranhheitsbegriff: Insider-Kritik an der neuen DSM-5: Beispiel fragwürdiger "Ausgewogenheit" in öffentlich-rechtlicher" Behandlung der Problematik Justiz-Psychiatrie: Sendung "Entmündigt - Wer nicht passt, wird eingewiesen?" alternativ: |