Psychiatrie-Geschichte

http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=53032Aufgrund ihres besonderen Krankengutes - psychisch 'gestörte', annormale Menschen - , sowie vielleicht mehr noch aufgrund ihres wissenschaftlich nur sehr begrenzt faßbaren, schwammigen Forschungsgegenstandes, der Psyche, suchten die Psychiater von Anbeginn die Nähe staatlicher Institutionen, um ihre "Wissenschaft" aufzuwerten. Es war sicherlich kein Zufall, daß der "ungekrönte König der deutschen Psychiater" Emil Kraepelin, (Grubitzsch-1) 

Mitbegründer des "Bundes zur Niederkämpfung Englands"1 war, geleitet vom Entsetzen über den Verfall der seelischen Gesundheit des deutschen Volkes. Kraepelin und sein Schüler Eugen Kahn, der die Führer der Münchner Räterepublik, allesamt zu Psychopathen erklärte. Es wird nicht gerne gehört, jedoch gilt bis heute, daß die Tradition der Staatsnähe deutscher Psychiater bis heute ungebrochen ist 2 !

Je beliebiger die Begriffe3, desto leichter der Mißbrauch. Protest zum Krankheitssymptom zu deklarieren bedeutet die Entpolitisierung von Protest. Bezeichnend ist der Aufruf in der Kreuzzeitung (=Neue Preußische Zeitung) von 1892. Zu Veröffentlichungen privater Betroffener (sog. "Irrenbroschüren") um 1900 siehe Brink. Zusammenfassung siehe Grubitzsch-2.

Bereits vor 1895 beschrieb Cesare Lombroso die Empfindlichkeit der von ihm untersuchten Anarchisten gegenüber Elend und Unrecht als "moralische Hyperästhesie" (krankhafte Überempfindlichkeit), ein frühes Beispiel psychiatrischer Begriffsfindung für abweichendes, gesellschaftsfeindliches Verhalten. Nachfolgend einige Beispiele:

- Der Assistenzarzt Kraepelins Eugen Kahn4 profilierte sich 1919 mit einem Artikel "Psychopathie und Revolution", in dem er Ernst Toller und Erich Mühsam als Psychopathen beschrieb und im Interesse des "Schutzes der Gesellschaft" vor Kriegsgegnern - Kraepelin war ein enthusiastischer Nationalist - für eine "Zusammenarbeit juristischer und psychiatrischer Fachleute" plädierte (Medizinische Wochenschrift, 1919, S. 968f, wo es heißt: "Als Psychopathen werden in der Psychiatriepsychisch nicht ganz intakte Persönlichkeiten bezeichnet, die bei im allgemeinen ausreichender, nicht selten sogar guter Verstandesbegabung Mängel auf dem Gebiete des Fühlens und Wollens aufweisen ..."
Auf seiner "Mängel"suche kommt Psychiater Kahn dann zu folgenden Ergebnissen:

- Toller "markiere den Künstler", sei disharmonisch, wirr, unreif, beeinflußbar, jedoch intelligent und vorm Standgericht sehr gewandt. Gesamturteil: Hysterische Persönlichkeit5
- Mühsam seinerseits sei ein psychopathischer Typus, "der durch kritiklos fanatische Verbohrtheit bei ungeheurem Selbstgefühl - ich bin die Revolution - gekennzeichnet ist." Gesamturteil: Fanatischer Psychopath
Psychiater der Anklage in Ernst Tollers Hochverratsprozeß im Juli 1919 war übrigens späterhin Ernst Rüdin, der Toller mit gleicher 'Diagnose' (hysterischer Psychopath) bedachte. 

- Marinus van der LubbeReichsbrandstifter von 1933, wurde von dem Psychiater Karl Bonhoeffer (zusammen mit Jürg Zutt) begutachtet. Diagnose: Psychopath, aber nicht geisteskrank6. Van der Lubbe war zur Verurteilung bestimmt, er durfte daher nicht zum Kranken abgestempelt werden, ähnlich wie etwa 

Anders Breivik, siehe die mit ihm veranstaltete Gutachterschlacht und dann die endgültige, letztlich politische Entscheidung des Gerichts.

Die psychologisch-psychiatrische Praxis dererlei Typisierungen waren in Wahrheit Etikettierungen in vermeintlich staatlichem Interesse. Unverändert gilt bis heute: "Der Gegenstand der Psychiatrie ist durch Beschreibungen konstituiert, die in sozialen Interaktionen erzeugt werden" (Ludewig). Dies jedoch bedeutet nicht weniger als: Die politischen Verhältnisse bestimmen die Exklusions-Schwelle bei psychiatrischen Begutachtungen mit. 

Wenngleich immer wieder Protest gegen diese Praxis aufflammte, so hat sich bereits 1931 der Abgeordnete der KP Dr. Löwenthal wie folgt kritisch über die Behandlung sogenannter Querulanten geäußert: Vielfach versuchten die Behörden, unbequeme Leute dieser Art unschädlich zu machen, indem man sie in einer Heil- und Pflegeanstalt unterbringe. Einem solchen Mißbrauch müsse man auf geeignete Weise vorbeugen, die Heranziehung eines psychiatrischen Sachverständigen biete gegen Mißbräuche erfahrungsgemäß keine unbedingte Gewähr. (Schubert, Protokolle der Strafrechtsausschüsse des Reichstags, 4. Teil, 1997,104). Ein wahrhaft vernichtendes Urteil über die Rolle von Psychiatern als Sachverständige!

Der Neigung der Psychiatrie, Wechselwirkungen auszuklammern und psychiatrische Auffälligkeiten als heriditär anzusehen, erwächst die Suche nach Selektionskriterien in staatlichen Diensten. Sind krankhafte Veranlagungen nicht heilbar, bleibt eben nur Ausschluß und Verwahrung. Die Mißbrauchsgefahr liegt auf der Hand7.

Die Geschichte angewandter Psychiatrie ist bis heute zutiefst antihumanistisch und undemokratisch. Immer wieder zeigt sich: Kernproblem ist die fehlende Kontrolle - und dies auch im BRD - Rechtsstaat, was zahlreiche Beispiele7 belegen.

Güse / Schnacke zeigen, daß es praktisch keinen unpolitische Psychiatrie-Praxis gibt, ebenso wenig eine ideologiefreie psychiatrische Theorie. Und wenn Foerster ungeschminkt einräumt, daß der Psychiater "wie jeder Arzt auch" als "Agent der Sozietät" immer auch die Interessen der Gesellschaft (aus Verantwortung gegenüber der Gesellschaft) zu berücksichtigen habe, so fragt sich, wie dies mit der Forderung von Unparteiischkeit, bestem Wissen und Gewissen in Einklang zu bringen ist. Darüber schweigt sich Foerster allerdings aus. Dies könnte wohl auch nur gelingen, wenn man die "Interessen der Gesellschaft" zuvor konkretisiert hätte - was nicht nur Foerster tunlichst unterläß; Grund: Bereits der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie variiert, jedenfalls in den Randbereichen, je nach den vorherrschenden "gesellschaftlichen Interessen".
Foerster dürfte zu den instrumentell eingestellten psychiatrischen Gehilfen der Justiz in der Kurt-Schneider-Tradition zählen, dessen Vokabular zwar modern erscheint, wenn er von "psychodynamischen und interaktionellen Phänomenen" bzw. "sozialkommunikativen Bezügen" (MschrKrim 1989, 85) spricht, dabei jedoch die 'deformation professionnelle' seiner richterlichen Auftraggeber und deren Interaktion mit den rechtsunterworfenen Probanden völlig außer Betracht läßt, die freilich im Zivilprozeß noch weitaus gewichtiger ist als im Strafprozeß.

Wer Nedopil9 Glauben schenken möchte, der glaubt eben, solange er nicht weiß: "Die heutige Psychiatrie will sich nicht mehr zu einem Staats- und Ordnungsorgan machen lassen." (SZ 10.10.2014




Anmerkungen:
1 Toller berichtet folgende Äußerungen Kraepelins im Zuge seiner Begutachtung: 
"Herr, fährt er mich an, als ich ihm vorgeführt werde, wie können Sie es wagen, die berechtigten Machtansprüche Deutschlands zu leugnen, dieser Krieg wird gewonnen, Deutschland braucht neuen Lebensraum, Belgien und die baltischen Provinzen, Sie sind schuld, daß Paris noch nicht erobert ist, Sie verhindern den Siegfrieden, der Feind heißt England.
Das Gesicht des Herrn Professor rötet sich, mit dem Pathos des manischen Versammlungsredners sucht er mich von der Notwendigkeit alldeutscher Politik zu überzeugen, ich lerne, daß es zwei Arten Kranke gibt, die harmlosen liegen in vergitterten klinkenlosen Stuben und heißen Irre, die gefährlichen weisen nach, daß Hunger ein Volk erzieht und gründen Bünde zur Niederwerfung Englands, sie dürfen die harmlosen einsperren.
– Wir sprechen zwei Sprachen, Herr Professor, sage ich, ich verstehe vielleicht Ihre Sprache, aber meine Worte sind Ihnen fremder denn chinesisch."  (Toller, Eine Jugend in Deutschland, 1979, S. 106f )

2 Zur Staatsnähe der Psychiatrie siehe v.a.: Dirk Blasius, "Einfache Seelenstörung" Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, 1994.
Folgende Einschätzung des Richters Rudolf Seebald dürfte bis heute gelten: "Die Psychiatrie ist meines Erachtens die dunkle Seite der Medizin. Sie ist gefährlich für Menschen, die sich gegen den Staat oder gegen die Gesellschaft aufbäumen oder sich gegen unberechtigte Angriffe auf ihre körperliche Unversehrtheit zur Wehr setzen."

3 "Wer die Dialektik beherrscht und die psychiatrische Sprache, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren und ihn in das Gewand des Akademischen stecken" für dieses Zitat aus Gert Postels Buch "Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy" 
 1985, vergriffen 
lieferte der Autor den regelrechten Beweis für die Richtigkeit des Zitats, der gewiß in den allermeisten, der juristischen, aber auch der anderen medizinischen Disziplinen sehr schwerlich zu wiederholen wäre. Dies dürfte der Zwitterstellung der Psychiatrie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft geschuldet sein.

4 Bemerkenswert ist, daß sowohl Eugen Kahn als auch die von ihm psychiatrisierten Revolutionäre Toller und Mühsam "jüdischer Abstammung" waren, ein Beleg des Facettenreichtums zwischen Systemkonformität und Systemveränderung dieser Typisierung.
Literatur: Kahn, E. (1928): Psychopathische PersönlichkeitenKahn lieferte auch zu Bumke's Handbuch der Geisteskrankheiten, dort Bd. 5 (1928), dem Zeitgeist folgend, einen "wissenschaftlichen" Beitrag über psychopathische Persönlichkeiten.

5 Kahn bezog sich auf das Gutachten Kraepelins über Toller vom Juli 1918, abgedruckt in: Emil Kraepelin Bd. 7 (Kraepelin in München II), 2009, S. 145-177. Nach Ausbürgerung des Juden Toller durch die Nazis, beendete Toller sein Leben 1939 in New York, nicht aufgrund von Hysterie, sondern - verständlicherweise - unter Depressionen, siehe hierzu die Sendung Radio Wissen (trotz Zwangsgebühren nicht mehr verfügbar).

6 Die integren Psychiater weigerten sich immerhin, den haftgezeichneten van der Lubbe für verhandlungsfähig zu erklären. s. a.: Bonhoeffer/Zutt, Über den Geisteszustand des Reichtstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe, Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie (89) H. 4 /1934, 185-213. Reprint: R&P 02/2008, S. 106ff, s.a. Spiegel-Artikel

 Karl Jaspers, Vater der Schneider'schen Lehre, erkannte immerhin unter Eindruck der NS-Zeit die Gefahr der Zeitgebundenheit des Krankheitsbegriffs der Psychiatrie. Dieser, so Jaspers, sei "entscheidend nach dem Gesichtspunkt der sozialen Brauchbarkeit" ausgedehnt worden. "Krank heißt unter irgendeinem, aber keineswegs immer gleichen Gesichtspunkt schädlich, unerwünscht, minderwertig" (op.cit., S. 764f).

8 Beispiele: DDR und BRD: "Psychiater wollte Häftling mit Spritzen zum Reden bringen" (FR 6.11.1991, abgedruckt in Sonja Vack, Kleines Schwarzbuch Strafvollzug, 1992, 34-37). Der Anstaltspsychiater spitzte einem Untersuchungshäftling 2ml physiologische Kochsalzlösung intramuskulär, verbunden mit der Ankündigung, er werde ihn solange spritzen, bis er rede.

9 Nedopil höchstselbst widerlegte jüngst diese optimistische Sicht auf seine Profession, siehe unter Fall Mollath, dort Exkurs (B).



Literatur:
- Rundbriefe der GEP, zur Psychiatrisierung in der Ex.DDR s. Rundbrief 2/08
- Knappe Übersicht über die Geschichte psychiatrischer Krankheitslehren: Susanne Ebner (Diss. Marburg 2010) 

sodann: 
- Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 4. Aufl., 1946
- Bauer/Richartz, Angepaßte Psychiatrie als Psychiatrie der Anpassung. Das Argument 60 (Sonderband, 1970), S. 152-162
- Hans-Georg Güse/Norbert Schnacke, Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus, 2 Bde. 1976
- Siegfried Grubitzsch, Psychiatrische Risikoabwehr, in: Der Mensch als Risiko, 1983, 107-125 
- Siegfried Grubitzsch, Revolutions- und Rätezeit aus der Sicht deutscher Psychiater, Psychologie und Gesellschaftskritik 9 (1985) H. 1/2, S. 23-47
Cornelia Brink»Nicht mehr normal und noch nicht geisteskrank...«. In: Werkstattgeschichte 33, 2002, 22-44 
- Klaus Foerster, Von der Verantwortung des psychiatrischen Sachverständigen. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber, 2003
- Jürgen Peters, Der Einbruch der Rassenhygiene in die Medizin, 2004, 139-203
Schott/Tölle, Geschichte der Psychiatrie, 2006
Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt, 2010
- Stephanie Neuner, Politik und Psychiatrie, 2011
- Rebecca Schwoch, Richterliche Macht und psychiatrisches Expertenurteil. Zum Entmündigungsprozess des Dr. med. Weißgerber wegen Querulantenwahns um 1900. In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 17 (2011), S. 123-148.