- Dr. Weigand

I. Kontroverse Diskussion:
Der Fall Dr. Günter Weigand, der sich in der Zeit der Restauration, d. h. in den 60er Jahren, abspielte, wurde bis zur Gegenwart  von Juristen, Psychiatern, Systemkritikern und Literaten breit diskutiert:   

a) Der Richter Ostermeyer sieht den Sozialanwalt Weigand als Opfer der damaligen Justiz, die diesen mit allen ihren Machtmitteln unbarmherzig "zusammenschoß", weil  sich seine Psychopathie zufällig gegen sie richtete (Im Namen des Volkes?, 1968, 230). Damit beschreibt Ostermeyer, einer der ganz wenigen systemkritischen Insider, die Skrupellosigkeit, mit der Justizjuristen lästige Rechtssuchende zu vernichten trachten können.


b) Auch Sutermeister äußerte Verständnis für Weigands Aktivitäten als selbsternannter "Sozialanwalt" in Sachen Aufklärung eines Mordes (Summa Iniuria, 1976, 666ff)
und sprach von einem grotesken Justizirrtum.

c) Die "Diagnose" des Psychiaters Henning Saß lautete: exzessive Querulanz. Noch 2010 suchte Saß unter der Überschrift "Der Exzess einer Tugend - Querulanz zwischen Persönlichkeit, Strukturverformung und Wahn" (in: 
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, S. 223-232) Weigands Handeln aus dessen Biographie abzuleiten. Saß versagte sich dabei jeder Kritik an seinen Gutachter-Kollegen Dr. Alfred Anton und Prof. Dr. Helmut Selbach, die verantwortlich dafür waren, daß Weigand immerhin fünf Monate wegen 'Belastung der Gesellschaft' in die geschlossene Psychiatrie weggesperrt worden war12012 kommt Saß noch einmal auf den Fall Weigand unter der Überschrift "Querulanz als Persönlichkeitszug" zurück und stellt neben diesen unter der Überschrift: "Eine querulatorische Strukturverformung der Persönlichkeit" noch einen weiteren vor, nämlich den Fall des Jens Meyer, der seit Jahren in Moringen verwahrt wird. Folgendes fällt dabei auf: Nachdem beiden(!) Fällen die Parteinahme für die Mutter in familiären Konflikten (Eltern-Scheidung, Unterhaltskampf usw.) gemeinsam war, hätte sich eine psychoanalytische Betrachtung regelrecht aufdrängen müssen! Nicht so bei Saß: Sein Fokus bleibt auf charakterogene Faktoren beschränkt 2

d) Im Hamburger Abendblatt (Nr. 42 vom 19.02.65) stand zu lesen, daß der Berliner Rechtsanwalt Fügart den "sensationellen" Antrag gestellt habe, den Prof. Selbach auf seine Prozeßfähigkeit untersuchen zu lassen. Dr. Weigand verklagte den Psychiater Prof. Selbach auf 10.000.- DM Schadensersatz wegen Persönlichkeitsverletzung - Selbach hatten W. als "gemeingefährlich geisteskrank" eingestuft - letztlich erfolglos. Aber immerhin konnte Weigand am Ende von Selbachs Berufshaftpflichtversicherung (Allianz) eine Zahlung von 13.230.- DM erlangen.

II. Zum Strafverfahren gegen Dr. Weigand:
Weigand wurde 1965/66 in einem aufwendigen Strafverfahren vor dem LG Münster zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil umfaßte über 1000 Seiten. De Boor (s. u.) schilderte die Umstände dieses Strafverfahrens in: Über den Zeitgeist, Bd. I, 1993, 99 - 103Wolfgang de Boor, Dr. W.s Privat-Gutachter, stellte retrospektiv die Diagnose "Monoperceptose" (Wahn und Wirklichkeit, 1997, 46) und hält ihn, rückschauend, doch nicht für voll verantwortlich. Den Erstgutachter Prof. Selbach bezeichnete de Boor als "obrigkeitshörigen" Arzt, "der Staatsraison über die wissenschaftliche Diagnostik" stelle, indem er auf Richterwunsch das Gutachten in Richtung auf völlige Unzurechnungsfähigkeit änderte. Nach Auffassung Selbachs gehörten "exzessive" Querulanten3 in die Sicherungsverwahrung (Über den Zeitgeist, Bd. I, Seite101f). 
Der Psychiater W. v. Baeyerneben Hans-Joachim Rauch (man beachte dessen NS-Vergangenheit) Gutachter im Strafverfahren gegen Dr. W., befaßt sich im Nervenarzt 5/1967, 187 mit dem Fall Weigand, in dem er (zusammen mit den Professoren Rauch und de Boor) als Gutachter tätig war. V. Baeyer behandelt nicht nur ausführlich Weigands Biographie, sondern kommt auch auf das soziokulturelle Moment, d. h. die Interaktion zwischen Querulanten und ihrem "Pendant", den Behörden zu sprechen. Schließlich trifft v. Baeyer folgende differenzialdiagnostische Feststellung: Eine Wahnerkrankung liegt bei W. nicht vor, denn "seine ... Ansichten bewegten sich immer im Bereich des Diskutablen." 4

III. Weigand schrieb Rechtsgeschichte.

Obwohl gegen Dr. Weigand 29 verschiedene Strafverfahren wegen Beleidigung, Verleumdung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Nötigung, Urkundefälschung usw. anhängig waren, kam niemand auf die Idee, W. die Prozeßfähigkeit zu entziehen oder ihn für geschäftsunfähig zu erklären. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, daß W. große Presseöffentlichkeit und renommierte Sympathisanten fand; u.a. soll Heinrich Böll eine ansehnliche Summe für Weigands Verteidigung gespendet haben. Der Versuch der Justiz, einen unbequemen Querulanten mittels Psychiatrisierung auszuschalten, endete mit einem (Teil)erfolg Weigands am 11.10.1978 beim Bundesverfassungsgericht, siehe BVerfGE 49, 304 = NJW 1979, 305. Die vorausgegangene, wahrhaft skandalöse BGH-Entscheidung vom 18.12.1973 - VI ZR 113/71  (BGHZ 62,  S. 54 = NJW 1974, 312) war mehrfach kritisch kommentiert worden, u.a. von Hellmer (NJW 1974, 556), Arndt (DRiZ 1974, 184), Hopt (JZ 1974, 551), Blomeyer (ZRP 9/1974, 214), Rasehorn (NJW 1974, 1172) und Speckmann (MDR 1975, 461). 
Der BGH hatte vom Vorrang der "Belange der Allgemeinheit am Funktionieren der Rechtspflege" gesprochen und davon, "aus Gründen der Rechtssicherheit" (denkbare) Einwendungen zu beschränken - eine Begründung, die Rückschlüsse auf die geistige Herkunft (autoritär-undemokratisch, wenn nicht sogar faschistisch geprägt, wie auch der schließlich an Weigand Schadensersatz leistende Sachverständige Selbach, siehe dessen Biographie) zumindest der Mehrheit des Senats erlaubt! Im gleichen faschistoiden Fahrwasser schwamm der Marburger Psychiater Helmut Ehrhardt, der sich über die "angeblich eine Million an Prozeßkosten" echauffierte und den "Fall W." nutzte, um gegen die Gnostiker, so etwa W.v.Baeyer ("Exponent des Gnostizismus") zu polemisieren (Ehrhardt, Zum Stand der Diskussion über die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, in: Vitalität = Fs. f. Bürger-Prinz, 1968, 259-293). 
Ehrhard, ehem. Gutachter am Erbgesundheitsgericht und späterer Gutachter in Entschädigungsfragen für Zwangssterilisierte, interessierte sich vielfach besonders für das Querulanten-Problem und deren Behandlung, Motto: Härte ist die größte Barmherzigkeit (MschrKrim 1963, 275). 

Positive Spätfolge der hartnäckigen Rechtsverfolgung Dr. Weigands in Sachen Falschbegutachtung  war die gesetzliche Neuregelung der Sachverständigenhaftung im § 839a BGB (in Kraft seit dem 1.8.2002). Für leichte Fahrlässigkeit haften Sachverständige allerdings auch künftiglich nicht (nur 4 von den 8 Verfassungsrichtern plädierten immerhin für Haftung des SV auch bei leichter Fahrlässigkeit).

Der Weigand-Fall führte zu zahlreichen Veröffentlichungen, v. a. seitens seiner Gutachter, die bewertende Details seine Biographie enthielten. Damit jedoch wurde Dr. Weigand zweifelsohne in seinem Anspruch auf Schutz seiner Privatspäre verletzt. Man erfährt, daß die Eltern geschieden wurden, der Vater ein primitiver Tyrann, seine Beziehung zu Mutter und Schwester besonders eng war, daß seine katholisch-religiöse Fixierung prägend wurde und man hört von Anpassungsschwierigkeiten im Beruf. 

IV. Kommentar
Günter Weigand ging es nicht um die eigene Sache, dies vor allem
unterscheidet ihn von anderen Psychiatrisierungsfällen. Er griff an, ohne sich - zunächst - verteidigen zu müssen. Insofern zeigte er durchaus die von Seiten der Psychiatrie beschriebene charakteristische Typik des Querulanten. Kennzeichnet war es, daß Weigand sich durchgängig als "Christ katholischen Bekenntnisses" darstellte, der im Gemeininteresse "für das Richtige, Gute, Gerechte in Tat und Wort" eintrat (Vorgänge 74, 40, 41). Weigand wollte sich nicht mit der strategisch gebotenen Subordination abfinden, sondern agierte gewissermaßen auf Augenhöhe. Dafür erhielt er die Quittung: So wurde der Vorschlag Weigands an einen Richter, er möge doch mal seine Urteilskraft (prsychiatrisch) nachprüfen lassen, mit einem Strafbefehl über 3000.- DM sanktioniert, der dann in der Instanz auf 750,- DM abgemildert wurde (Weigand, Vorgänge 81,13).
Nichtsdestotrotz dekuvrierte Weigand das System, also die staatliche Institution Justiz samt ihrer Gehilfen, die forensischen Psychiater, und wurde lebendes Beispiel für deren schier grenzenlosen Wertungsrahmen bei der Grenzbestimmung zwischen normal und krank resp. gemeingefährlich.

Die Reaktion der Justiz war nicht weniger symptomatisch für deren Zustand in jener Zeit. Damals wie heute diente es der gegenseitigen Entlastung, wenn die Justiz die Gutachten der Psychiater nicht infrage stellt und die Psychiater die Feststellungen der Justiz unkritisch übernehmen. Den aktuellen Beleg für diese unheilige Allianz Justiz-Psychiatrie lieferte jüngst der Fall Mollath.

Der Weigand-Fall hatte eine weitere erfreuliche Komponente: Die mediale Öffentlichkeit, ohne die Dr. Weigand (wie übrigens auch Mollath) nicht aus den Fängen der Psychiatrie befreit worden wäre. Die Öffentlichkeit erwies sich in der Causa Weigand als wahrhaft vierte Gewalt, auch wenn es ihr auch um Auflagensteigerung durch Skandalisierung gehen mochte. Gerhard Mauz schob (tendenziell) schließlich doch Weigand den schwarzen Peter zu (s. Literatur u. SPIEGEL). Damit mochte er nicht ganz falsch liegen, aber auch nicht richtig, denn die Justiz mit ihren Adlaten, den Psychiatern, lieferte miserable Arbeit. Sie muß lernen, mit (für sie) 'schwierigen' Menschen besser umzugehen. 
Das BVerfG wirkte, "wenn auch mit 3:5 äußerst knapp!", segensreich, denn es beseitigte die Freistellung psychiatrischer Schlechtachter von jeder Haftung für Fehlexpertisen, "so daß seither nicht mehr so risikolos das Irrenhaus auf aufmüpfige vermeintliche Kohlhaase und Querulanten wartet" (Zitate s. Weigand, Vorgänge 74, 44).



Anmerkungen: 
Über eine der Verhandlungen berichtete das Hamburger Abendblatt von 28.1.1956; das   Warum beantwortet sich, wenn man die angerötete/angebräunte Biographie dieser beiden Fachkollegen anschaut. Zu Recht hebt  Sutermeister denn auch Selbachs "braune Flecken" hervor (a.a.O. S. 672). Selbachs Aufsatz "Der Arzt zwischen Wahrheit und Fürsorge", erscheint passagenweise in der NS-Zeit konzipiert (Wissenschaft und Verantwortung, 1962, 104 ff). 

2 Dem entspricht denn auch ein entlarvender Satz: "Ausdrücklich sei an dieser Stelle betont, daß es sich bei diesen Aussagen um psychologisch-psychopathologische Gesichtspunkte handelt und nicht um eine Darstellung aus rechtlicher Sicht." (Saß in: Frank Schneider, Positionen der Psychiatrie, 2012, 282). Der Mitverantwortung der Gegenseite, also Reaktion und Wechselspiel, bleibt bei Saß wohl generell außer Betracht- In solchen Fällen kann zu Recht von einer Psychiatrisierung gesprochen werden, jedenfalls immer dann, wenn der Streitinhalt völlig unbeachtet bleibt, obwohl dieser für den Betroffenen den Bagatellrahmen deutlich überschreitet. Hier fragt sich: inwieweit darf sich ein Sachverständiger als Dritter anmaßen, mittels Schweigen zum Streitinhalt Wertungen in der Frage der Verhältnismäßigkeit zu treffen?

3 Durch die Querulanten-Zuschreibung angeregt, produzierte Johannes Schröten den Film:

4 siehe dazu die kritischen Anmerkungen Haddenbrocks im Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd. II, 1972, 913ff. Anzumerken ist: Siegfried Haddenbrock, im NS-Staat sozialisiert, ist erklärter Kurt-Schneider-Adept (siehe: MSchrKrim 1955, 183). 



Literatur: 
- Justizskandal Weigand, Konkret Nr.2/1965
- Neue Illustrierte 13/1965: Unschuldig in der Irrenanstalt
- DIE ZEIT 1.4.1966, Seite 14
- Kriele: Nur ein Einzelfall? in: ZEIT-ONLINE
- Frank Arnau, Die Strafunrechtspflege, 1967, 159ff, 211f.
- v. Baeyer, Zur Frage der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit von Psychopathen. Der Nervenarzt,1967, 185-192 
- Haddenbrock in: Hb.d. forensischen Psychiatrie Bd.II, 1972, 913f.
- SPIEGEL 1/73 Ausnahme und Regel
- Hellmer, NJW 1974, 556f.
- Blomeyer, ZRP 9/1974, 214f., 217f.
- Günter Weigand, Der psychiatrische Sachverständige vor Gericht, Frankfurter Hefte 10/1975, 39ff.
- DIE ZEIT 08.12.1978
- Günter Weigand, Der Rechtsstaat wird uns nicht geschenkt, 1979; dazu die  
- Günter Weigand, Mit Zivilcourage auch gegen Justiz-Unrecht? Vorgänge 74 1985, 40-45) 
- dto.: Vom Unfehlbarkeitswahn rechtsstaatlicher Justiz. Vorgänge 81(1986, 10-13) 
- de Boor/Dieter Meurer, Über den Zeitgeist, Bd.I, 1993, 99-103
- Jürgen Kehrer, "Schande von Münster" Die Affäre Weigand, 1996
- de Boor, Wahn und Wirklichkeit, 1997, 45ff.
- Dietmar Klenke, Schwarz-Münster-Paderborn, 2008, 64 - 67

Links:


Scientologen-Futter: