- Vogeler

Heinrich Vogeler

Heinrich Vogeler, renommierter Worpsweder Künstler, hatte sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet, wurde jedoch angesichts des blutigen Krieges zum glühenden Pazifisten. 1918 forderte der 46 Jahre alte Vogeler den Kaiser in einem offenem Friedensbrief1 in Gestalt eines "Märchens vom lieben Gott" auf, den Krieg zu beenden. Der liebe Gott, als Flugblattverteiler auf dem Potsdamer Platz, sprach zum Kaiser: "Sei Friedensfürst, setze Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, Kaiser!" Anlaß des offenen Briefes war der "Gewaltfrieden" von Brest-Litowsk vom 3.3.1918. 

Wenige Tage später wurde Vogeler, 
gerade in Urlaub auf seinem Barkenhoff, auf eine psychiatrische Beobachtungsstation nach Bremen gebracht. Dort wurde Vogeler als "Neuropath", der aufgrund erblicher Belastung an "Stimmungsanomalien" litt, nach 63-tägigem Aufenthalt als dienstunfähig aus dem Militärdienst entlassen und unter polizeiliche Aufsicht gestellt. 

Vogeler hatte noch Glück, daß er in eine zivile Psychiatrie kam, denn in der Militärpsychiatrie wäre er wohl den damals üblichen Zwangsmaßnahmen wie Elektroschocks, Hypnose, Dauerbaden u. ä. ausgesetzt gewesen.

Bei Vogeler erfolgte m
ittels Psychiatrisierung die Entpolitisierung seines Protestes, wodurch er einer Verurteilung wegen Landesverrats entging. Diese glimpfliche Behandlung hatte Vogeler letztlich seinem Bekanntheitsgrad und seiner Fürsprecher zu verdanken. Hält man sich vor Augen, daß Vogeler durch und durch Künstler war, der seinen Ideen, auch seine politischen, tätig lebte - nach dem Ende des 1. Weltkrieges gründete Vogeler eine anarchisch-kommunistische Kommune und stellte ab 1924 seinen Barkenhoff der "Roten Hilfe" zwecks Unterbringung von Kindern politisch Verurteilter zur Verfügung - , so leistete die zivile Psychiatrie hier Hilfe mittels Exklusion aus der Kriegsmaschinerie - ähnlich den Fällen, in denen Ärzte Hexen vor der Hexenprobe retten konnten, indem sie die "Hexen" zu Geisteskranken erklärten.

Ein weit tragischerer Parallelfall - verursacht durch Fehldiagnose - ereignete sich "Dritten Reich": Am 14.9.1935 hatte der Bayreuther Kaufmann Johann Friedrich H. einen auffälligen Brief an den "Führer" geschrieben. In diesem Brief behauptete er, daß der Führer selbst Freimaurer sei. Am 31.10.1935 wurde H. von der Gestapo verhaftet, und in die Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth gebracht. Seine Verwahrung wurde vom Oberbürgermeister angeordnet. Am 22.1.1936 stellte die Anstaltsdirektion Antrag auf Unfruchtbarmachung wegen der Erbkrankheit "Schizophrenie". Am 29.1.1936 wurde H. durch die Gestapo nach München in die dortige Nervenklinik verbracht. Am 10.6.1936 ordnete das EG (Erbgesundheitsgericht) Bayreuth - ohne persönliche Einvernahme des H. - die Unfruchtbarmachung an. Der Arzt in Bayreuth hatte zwar die Möglichkeit von "schizoider Psychopathie mit Querulantenwahn" nicht ausgeschlossen, jedoch der Diagnose auf Schizophrenie den Vorzug gegeben. Die Beschwerde des Vaters war vom Erbobergericht Bamberg am 1.9.1936 zurückgewiesen worden. Ein Rechtsanwalt stellte mithilfe zweier neuer Gutachten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Ende 1936 wurde H. aus der Anstalt entlassen und die Pflegschaft aufgehoben, er stand jedoch unter ständiger Polizeiaufsicht. Weitere Gutachten hielten die Diagnose Schizophrenie aufrecht. Der Nürnberger Nervenarzt Sander äußerte dann aber allergrößte Bedenken und erklärte H. für nicht erbkrank. 1937 schließlich hob das EOG nach eingehender Anhörung des H., in der H. vollständig normal erschien, den Antrag auf Unfruchtbarmachung auf.  

Beide Fälle, der Fall Vogeler und der Fall J. F. H. zeigen die Funktion der Psychiatrie im Gewand einer Geisteswissenschaft als Helfer und Schützer der Politik oder Obrigkeit in ihrer Rolle als Dezisions- und Selektionsgehilfen. 
Die Anfälligkeit der Psychiatrie für Konzessionen an den Zeitgeist ist evident. Die Geschehen offenbaren zugleich den Wahnwitz des jeweils herrschenden Systems.
Der zweite Fall des J.F.H. zeigt zudem die Bedeutung auf, die eine persönliche Anhörung haben kann, aber auch die im Falle des  H. wiederholten Interventionen mehrerer Rechtanwälte dürften Friedrich H. gerettet haben.  

Die politische Gehilfen-Rolle der Psychiatrie zeigt sich besonders im Fall Wladimir Buskowskijs. Die vorliegend zum Diskussionsgegenstand erhobene Psychiatrisierung unbequemer Parteien im Zivilverfahren ist nur scheinbar unpolitisch, in Wahrheit jedoch Mißbrauch eines rechtspolitischen Vakuums.


1 Briefe an die Höchsten Staatsfunktionäre laufen immer wieder Gefahr, daß die Verfasser solcher Briefe psychiatrisiert werden. Tatsächlich sind sie Ausweise einer ungewöhnlichen Naivität, das sich in grenzenlosem Vertrauen ausdrückt. Im dritten Reich klang dies so: "Wenn das der Führer wüßte ..."
Dies gilt nicht nur für Vogeler, sondern auch für die heutige Zeit: Beispiele lieferten außer Mollath etwa auch Claudia Mühlhölzl,
RA Strate hat diese Ursache - ein Brief als Auslöser - treffend beschrieben: 
Das Erschreckende am Fall Mühlhölzl ist der geradezu maschinelle Ablauf:
weder Gutachter, noch Richterin hielten eine persönliche Anhörung vor Zwangs-Einweisung in die Klapse für erforderlich.
Lehre daraus:
Wer an den Papst oder auch nur an einen Ministerpräsidenten schreibt und sich nicht mit dem Rechtsweg abfindet, landet erst einmal ohne Anhörung in der Psychiatrie!
Der Fall Mühlhölzl zeigt beispielhaft die Ordnungsfunktion der Psychiatrie: ärztliche Willkür paart sich immer wieder mit richterlicher. 




Literatur: 
- Bernd Küster, Heinrich Vogeler im Ersten Weltkrieg, 2004, Seiten 82-90