Instrumentelle Psychiatrie

Im Gegensatz zur Jurisprudenz, die immer auch eine ethische (kaum trennbar von Religion und politische Zweckverfolgung) Komponente aufweist, hat die Psychiatrie ihren Ursprung in der Beobachtung und Suche nach ursächlichen Zusammenhängen.  

Castel beschreibt die beiden Entwicklungsschritte für Frankreich wie folgt: Zunächst wurden durch Beobachtung der Symptome bzw. Syndrome Klassifikationen aufgestellt (durch Pinel, Esquirol und z. T. noch Griesinger). Sodann bemühten sich v. a. Morel und Magnan um Kenntniserlangung von Äthiologie und Ablauf von geistigen Störungen mittels Aufstellung nosologischer Typen und Gruppen (Robert Castel, Die psychiatrische Ordnung, 1976, 292).

Die deutschsprachige Psychiatrie tat sich durch Typisierungen, hier insbesondere von Charakteren, hervor. Als Protagonisten der Typisierer seien die Namen Kurt Schneider und Ernst Kretschmer genannt. Mehr oder weniger verklausuliert1, geht es um die Einteilung des Patienten'materials' nach bestimmten Charakteranlagen. So schuf Kretschmer u. a. den Typus des 'sensitiven' Charakters - als solchen beschrieb erst jüngst Nedopil den zu Unrecht hospitalisierten Gustl Mollath. Als Gegentypus sieht Kretschmer die "querulatorische Kampfnatur" (Kretschmer, Medizinische Psychologie, 12. Aufl. 1963, 333). Selbst die Vernichtung lebensunwerten Lebens gemäß der NS-Ideologie konnte in der deutschen Schulpsychiatrie offensichtlich die Etikettierung nach genetisch (biologisch) bedingten Charakterdefiziten gesellschaftlich lästig-auffälliger Individuen nicht nachhaltig in Frage stellen. Für die Faschisierung der deutschen Psychologie (Klaus Weber, in: Psychologie und Gesellschaft 61 (1/1992) S. 5ff) steht der Psychologe Philipp Lersch mit seinem Werk "Aufbau des Charakters" (1938). Wolfgang Fritz Haug bemerkt dazu treffend: 
Die "Charaktere" werden auf Abweichungen von einer gespenstischen Norm belauert und als Typen erfaßt. 
(Haug, Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts, 1986, 89f)

Auch die sog. Kriminalbiologie entwickelte Tätertypen als Erkenntnismittel. Dabei steht "Hang" für erblich. Hassemer dazu: "Biologische Erklärungen kriminellen Verhaltens sind resignativ ..." (Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen, Band 6 Kriminalbiologie, 1997)

Dies alles zeigt: Die Psychiatrie ist jedenfalls keine reine Naturwissenschaft2 oder Hermeneutik, sondern ihre Begrifflichkeit richtet sich von Anbeginn auf Wertungen und Grenzbestimmungen in Richtung auf gesellschaftlichen Einschluß (=Internierung) oder Ausschluß (mittels Unfähigkeitserklärung). Mit begrifflichen Prägungen wie "krankhaft", "entartet"3 oder "abnorm" entpolitisiert die Psychiatrie berechtigte Kritik, insbesondere auch Systemkritik. 

In Wahrheit jedoch half die praktische Psychiatrie dem herrschenden System. So war es Aufgabe der Militärpsychiatrie Simulanten zu entlarven und 'Neurotiker' mit oft brutalsten Methoden wieder frontfähig machen - heute nennt man dies 'Inklusion' (aktueller Modebegriff). 

Zur Psychiatrisierung eines sogenannten Querulanten in der NS-Zeit s.u.

Auch heute sind Militärkritiker - Fall des Uran-Munition-Kritiker S.-H. Günther - nicht gegen Psychiatrisierung gefeit: so sollte Günther an einer "übersteigerten Emonationalität" gelitten haben. 

Als "flagrantes" Beispiel für "Mißbrauch der Psychiatrie im amerikanischen Justizsystem" wurde Ezra Pound 1946 psychiatrisiert, wie 1981 berichtet: ein Akt politischer JustizBekannt wurde auch die Psychiatrisierung des sowjetischen Regimekritikers Wladimir Bukowskij. Weitere Literatur zur UdSSR:

Zum Psychiatriemißbrauch in der DDR siehe Weinberger:
in Anknüpfung an die Fallbeispiele für "systematischen" Mißbrauchs im Rundbrief 1/97:
Weitere Zeugnisse und Stimmen zum Thema Psychiatrisierung in der DDR:

Der früheste Fall einer politisch begründeten "Diagnose" - auf Weisung des Zaren Alexander I. - soll laut FAZ (Kerstin Holm) übrigens die des Philosoph Tschaadajew gewesen sein. Dieser Fall regte dessen Freund Alexander Puschkin zu einem wundervoll-erschütternden Gedicht "Gib Gott, dass mich nicht Wahnsinn packt" an. 

Die Diagnose "geistige Umnachtung" aus politischen Gründen hat aber nicht nur in Rußland Tradition, sondern auch in Westeuropa, wenn man nur an den heute gefeierten Wegbereiter der französischen Revolution Jean-Jacques Rousseau denkt, dem Paul Julius Möbius, Schöpfer der sog. Pathographie, die Diagnose Paranoia (hier als Verfolgungswahn) anheftete. 

In ähnlicher Weise werden heute noch, wenn auch verschlüsselt und pseudowissenschaftlich gewandet, in der Bundesrepublik lästige Justizkritiker diagnostisch zu sog. Rechtsneurotikern abgestempelt und mittels Prozeßunfähigkeitserklärung mundtot gemacht (statt Sedierung mit Medikamenten -  Exklusion)4. Wie gesagt: nicht behauptet werden soll damit, daß jeder Querulant Pseudoquerulant sei, daß also keinerlei pathologisches Querulantentum existiere, so auch: Bodo von Greiff, in: Zs. f. Soz., 4/1979, 344ff, dort S. 348f.


Beiden Disziplinen, Recht und Psychiatrie, ist gemein, daß sie nur sehr eingeschränkt als Wissenschaft gelten können. Wenn sich bei der Anwendung des § 56 ZPO der Richter auf reines Richterrecht stützen muß, so ist dies keine Wissenschaft. Auch die einschlägigen Präjudizien liefern keinerlei Maßstäbe für die Grenzbestimmung zwischen prozeßfähig und prozeßunfähig, so daß der Spielraum für eine persönliche Wertung - krasse Fälle ausgenommen - nahezu unbegrenzt ist. 

Diese Grundaporie der Rechtswissenschaft rechtfertigt daher voll die hier vorgeschlagenen formalen Schranke - sofortige Beschwerde - gegen ubiquitäre herrschender richterlicher Willkür bei Erhebung von Zweifeln an der Prozeßfähigkeit.

Abschließend sei folgendes Zitat des Mollath-Verteidigers Gerhard Strate in einem Interview (im Deutschlandradio Kultur am 29.08.2013) wiedergegeben: 

"Ich meine aber auch, dass vor allen Dingen in der Diskussion um die Rolle der Psychiatrie und ihr Verhältnis zur Justiz die öffentliche Darstellung dieser Gutachten auch von enormer Bedeutung ist. Die Psychiatrie ist es ja nicht gewohnt, dass sie sich selbst kritisch betrachtet, sondern das ist eine - vor allen Dingen im Bereich der forensischen Psychiatrie ist das ein Kreis von 40, 50 Professoren, die sich wechselseitig in Lehrbüchern und Artikeln hochloben, und keiner mag den anderen mal massiv aufs Korn nehmen. Da gibt es einige ganz, ganz wenige Ausnahmen, eine rühmliche Ausnahme ist etwa Professor Nedopil, der auch in einem sehr klaren Interview im "Spiegel" Position bezogen hat. Aber insgesamt ist die Psychiatrie in ihrer Wissenschaftlichkeit ... also man mag da eigentlich gar nicht von Wissenschaftlichkeit reden, aber dass sie nicht eine Wissenschaft ist, das hat sie mit der Juristerei beispielsweise gemein. Aber trotzdem, in dem intellektuellen Niveau ist die Psychiatrie zum Teil wirklich sehr depraviert. Und dass trotzdem unendlich viele Menschen von diesen Psychiatern abhängig sind, das ist schon erschreckend, und dafür ist es eigentlich gut, dass diese Dokumente auch in der Öffentlichkeit präsentiert werden." 

Die Lobpreisung des Professors Nedopil erwies sich leider als verfehlt, denn die Nagelprobe in der Praxis der Mollath-Begutachtung bestand dieser keineswegs, s. u. VII. Exkurs (B): Norbert Nedopil.

Nedopil hält die Psychoanalyse für eine Ideologie. Er hat sich damit als Protagonist der klassisch-statischen, antidynamischen deutschen Psychiatrie-Schule ausgewiesen. Indem Nedopil Kretschmer zitierte, outete er sich als in der traditionellen deutschen Psychiatrielehre stehender Vertreter der Charakteranlage, zu der neben Kretschmer auch Kurt Schneider zählt. Kennzeichen abnormer Charaktertypen sind "charakteroge" Reaktionen. Die sog. Schlüsselerlebnisse und der (angeborene) Charakter "passen zusammen wie Schlüssel und Schloß" (Kretschmer, medizinische Psychologie, 1971, 183; Nedopil bringt dieses Bild im Mollath-Gutachten, dort S.12 unten.

Anm. d. Verf.:
Ihm, Nedopil, könnte die Lektüre "Die Gesellschaft und ihre Verbrecher" von Paul Reiwald (hier die Neuauflage von 1973 mit ergänzenden Beiträgen von Moser und Jäger) ein Stück weit helfen, aus dem Käfig der herrschenden Lehre zu entkommen, insbesondere dem Blick von oben nach unten. Das Bundeskriminalamt hat sich gegenüber den Erkenntnissen der Psychoanalyse - anders als Nedopil - nicht (mehr) verschlossen, siehe nur "Fallanalyse und Täterprofil", dort S. 69 ff.
 



Anmerkungen:
1 Zeitgenossen sprechen gar von "blutchemisch" bedingten Temperamenten. Kretschmer bezeichnete seine Konstitutionstypen auch  "Biotypen" (Robert Heiss, Die Lehre vom Charakter, 1936, 9, 25)

2 Zur Frage von Wissenschaftlichkeit und Mißbrauch siehe die Psychiater Weinberger und Kutschke.

3 So wie der in der Psychiatrie bereits zuvor geläufige Begriff 'Entartung' in der NS-Zeit politisch genutzt wurde - "entartete Kunst"- , diente diese Profession mit ihrer diffusen Begrifflichkeit auch der Justiz mittels pseudowissenschaftlicher Etikettierung lästiger Störer. Das Beispiel zeigt die kaum aufzuschlüsselnde Affinität der Psychiatrie zur Politik.  
 
4 Psychiater dienten der Politik in anderen Feldern, siehe etwa in der Sterilisationsdebatte (einschlägig hierzu: Anna Bergmann, Die verhütete Sexualität, 1998, 199ff).




Literatur: 
- Wulff, Psychopathie? - Soziopathie?, Das Argument 1972, 62-78
- Paul Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, 1973
- Dieter Storz, Ärztlicher Imperialismus. Academia.
- Güse/Schmacke, Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus, 1976
- Dieter Storz, Politische Psychiatrie (II), Psychologie heute, Sept. 1976, S.49ff
- Wulff, Psychiatrie und Herrschaft, Das Argument 1978, 503-517
- Wolf Crefeld, Entmündigung - wozu? - in: Klaus Dörner (Hg.) "Die Unheilbaren", 1983, 57-69
- Riedesser/Verderber, Aufrüstung der Seelen, 1985
- Bukowskij, Opposition. Eine neue Geisteskrankheit in der Sowjetunion? 1973

Fälle von Instrumentalisierung der Psychiatrie durch die Gerichte in den Medien: