Progressive Entscheidungslinien

Erfreuliche Entwicklungstendenz in Richtung auf Verfassungskonformität:

Immerhin 
läßt sich in der Gesamtschau auf die einschlägige bundesdeutsche Rechtsprechung eine Entwicklung zu einer Höherbewertung der Rechte des Individuums gegenüber der öffentlichen Gewalt feststellen! 

Die Vielfalt der in den Entscheidungen vertretenen Meinungen über die prozessuale Handhabung des § 56 ZPO zeigt, daß erheblicher Regelungsbedarf seitens des Gesetzgebers besteht. Mehrere Gerichte stellten einen Begründungsmangel sowie ein außerordentliches Beschwerderecht bislang lediglich nur dann fest, wenn der Betroffene entweder damit rechnen mußte, daß gemäß § 33 FGG a.F. die zwangsweise Durchsetzung des Beschlusses bevorstand (OLG Düsseldorf, 21.6.2005, FGPrax 2005, 252; OLG Frankfurt/M. B. v. 11.11.92, FamRZ 1993, 442) oder wenn es das Gericht verabsäumt hatte, die betroffene Partei vor Erlaß des Beweisbeschlusses persönlich anzuhören (BGH 28.5.2009 m.w.N.), weil es sich dann um einen Grundrechtseingriff handelt. 

Erfreulich auch das Landessozialgericht der Länder Berlin und Brandenburg im B.  v. 17. 12.2012: Auch länger zurück liegende Atteste und der kurze Eindruck (hier: eines "verworrenen Wortschwalls" - der etwas "durchaus Übliches vor den Sozialgerichten" darstelle) könnten eine "sorgfältige Ermittlung in medizinischer Hinsicht" nicht ersetzen.

Ein nicht hinreichend begründeter, d. h. tatsächlich konkretisierter "konkreter Zweifel" seitens des Gerichts mit nachfolgendem Beweisbeschluß wird bisher  n i c h t  als Grundrechtseingriff gesehen. Richterseitigen Zweifeln am Geisteszustande einer Partei ist neuerdings sogar den Gerichten "ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Feststellung einzuräumen, ob solche (hinreichende) Anhaltspunkte vorliegen" (BGH-Entscheidung vom 6.12.2013). Dieser Satz hat es in sich, denn: nachdem ein faktischer Mitwirkungszwang dadurch ausgeübt wird, daß die betroffene Partei, stellt sie sich der psychiatrischen Untersuchung nicht, ihre Prozeßfähigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit verliert, ist der nun durch Richterrecht postulierte "weite Beurteilungsspielraum" eine regelrechte Ermunterung zum Amtsmißbrauch, denn: jede psychiatrische Untersuchung stellt - und dies ist unstrittig - einen massiven Grundrechtseingriff dar. Wenn es eines solchen 'weiten' Entscheidungsspielraums schon deswegen bedürfe, weil die von dem Gericht verkannte Prozessunfähigkeit einer Partei die Nichtigkeitsklage gegen ein Sachurteil begründete (siehe nur: PWW/Gehrlein, ZPO, 5. Aufl., §579 Rn. 3 mwN), so zeigt dies die tatsächliche Zielrichtung wenn bei der Abwägung  (der Menschenwürde eines möglicherweise irrig oder gar böswillig psychiatrisierten Klägers gegenüber dem Interesse der Institution) das Interesse der Institution Gerichtsbarkeit an Arbeitsersparnis obsiegt. Bekannt wurde mittlerweile, daß die Gerichte dem SV sehr häufig eine Tendenz - also das gewünschte Ergebnis -  signalisieren. Die Lage erscheint umso fataler, als erfahrungsgemäß nur wenige Sachverständige über soviel Chuzpe verfügen, gegen eine ihnen unterbreitete Richtereinschätzung zu votieren, riskieren sie doch für die Zukunft ihre Entpflichtung. Der dem Richter vom BGH zugebilligte 'weite' Entscheidungsspielraum in Bezug auf Anhaltspunkte muß also erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken wecken!

Exemplarisch für die in der bundesdeutschen Rechtsprechung immer noch herrschende repressive Haltung ist das Urteil des OLG Stuttgart v. 23.5.2006 - Az. 13 W 29/06: Eine sofortige Beschwerde gegen eine Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung bei Zweifeln an der Prozeßfähigkeit sei unzulässig, da es eine "einschlägige gesetzliche Regelung über die Zulässigkeit der eingelegten Beschwerde nicht gibt". 
Kommentar: Das OLG Stuttgart zählt sicherlich nicht zur Avantgarde der OLG-Rechtsprechung. Von Verfassung her dürfte diese Rechtsansicht angreifbar sein - jedenfalls hat der Verf. hat in einer verfassungsrechtlich ähnlichen Lage erfolgreich Verfassungsbeschwerde erheben können.1

Zwar wurde die gängige Rechtsprechung bereits kontrovers diskutiert, ob es nämlich richtig sein kann, daß bei nicht aufklärbaren Zweifeln, also in einer Situation des non liquet, die von Zweifeln überzogene Person als zwar allgemein - noch - geschäftsfähig, nicht jedoch als prozessual geschäftsfähig zu behandeln ist, eine Situation, die seit den Grundsatzurteilen des BGH vom 24.9.1955 (BGHZ 18, 184) und BGH vom  9.5.1962 (NJW 1962, 1510) bis heute herrschende Meinung ist. 

Wann eine grundrechtskonforme Auslegung ein Rechtsmittel (hier: sofortige Beschwerde) gegen eine leichtfertig angeordnete psychiatrische Untersuchung zur Klärung richterseitiger Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Partei als geboten erscheint, steht in den Sternen - bis dahin wird der Amtsschimmel in Gestalt überkommener Textbausteine wiehern!


Bedeutsame Einzelentscheidungen in Richtung auf GG-Konformität:

a) Schier unglaublich ist die Verweigerung der Einsichtnahme in ein psychiatrisches Gutachten aus rein rechtstechnischen Gründen in einem Beschluß des Kammergerichts (KG) vom 7.4.1960 (NJW 1960, 1625), immerhin wurde diese Entscheidung unter Bezugnahme auf das GG kritisch kommentiert von Keidel (RPfleger 1960, 358). Mit seinem Urteil vom 1.6.1981 (NJW 1981, 2521) setzt das KG dann aber dagegen: Das Arzt-Patient-Verhältnis habe sich einschneidend verändert, aus dem "auf mythologischen Wurzeln beruhenden Unterwerfungsverhältnis" sei ein Verhältnis unter Gleichgeordneten geworden. Gemäß Art. 2 GG sei der Patient berechtigt, über sich selbst zu bestimmen.

b) Das BayObLG  stellte in einem FGG-Gebrechlichkeitspflegschafts-Verfahren mit Beschluß vom 28.10.1966  (NJW 1967, 685) fest, daß die Untersuchung einer Person auf ihren Geisteszustand entgegen ihrem Willen die Würde der Person berühren kann. "Derartige ärztliche Untersuchungen rühren tief an die private und persönliche Sphäre des Einzelnen, zumal sie sich regelmäßig nicht auf eine körperliche Untersuchung beschränken, vielmehr, und zwar in der Hauptsache die Offenbarung höchst persönlicher Angelegenheiten erfordern. Unter diesen Umständen greift eine gerichtliche Anordnung, welche die Untersuchung auf den Geisteszustand zum Inhalt hat, in so erheblichem Maße in die Rechte des Betroffenen ein, daß die selbständige Anfechtbarkeit des landgerichtlichen Beschlusses unbedingt geboten ist." Es folgt nun eine Überlegung, die für den vorliegende Problematik bedeutsam ist: "Es könnte allerdings zweifelhaft sein, ob ein erheblicher Eingriff in die Rechte eines Beteiligten anzunehmen wäre, wenn die vom Amtsgericht angeordnete Maßnahme nicht vollstreckbar wäre."

Anmerkung: Ein Pflegschaftverfahren wird (heute) ausschließlich im Interesse des Betroffenen eingeleitet, anders als ein Untersuchungsverfahren von Amts wegen bezüglich der Klärung von Zweifeln an der Prozeßfähigkeit einer Partei, das auch im öffentlichen Interesse durchgeführt wird, weshalb die Meßlatte für Eingriffe in Persönlichkeitsrechte für staatliche Organe eher höher hängt.  I.ü. besagt die Formulierung "könnte zweifelhaft", daß es der Senat schon 1966 durchaus für möglich hielt, daß - von Verfassung wegen - ein (sofortiges) Beschwerderecht auch im letzteren Falle zu gewähren sein könnte, denn in beiden Fällen geht es um eine (partielle) Geschäftsfähigkeit, im letzteren Falle um die sog. "prozessuale" Geschäftsfähigkeit. In seiner Entscheidung vom 12.6.1972 (NJW 1972,1522) bestätigt das BayObLG seine Entscheidung vom 28.10.66 und weist auf mildere Untersuchungsmethoden hin, nämlich auf die Anordnung des persönlichen Erscheinens bei Hinzuziehung eines sachverständigen Arztes. 

c) Für seine Zeit geradezu revolutionär, postulierte das FinG Berlin bereits am 15.11.1968 (NJW 1969, 1792): "Der in einem Rechtsstaat unbedingt notwendige Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz darf nicht schon in Zweifelsfällen, sondern erst dann versagt werden, wenn mit ausreichender Sicherheit feststeht, daß der Rechtsschutzsuchende nicht in der Lage ist, die zur Wahrung seiner Belange nötigen Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Belastung der Gerichte durch Personen, die von den Rechtsschutzgarantien in einer übermäßigen Weise Gebrauch machen, muß in Kauf genommen werden, soweit dem nicht mit Mitteln des Verfahrensrechts vorgebeugt werden kann." Zuvor stellte das FinG Berlin fest, daß es an Grenzziehungskriterien (!) bislang fehle. Der Senat war der Ansicht, "daß der Begriff der partiellen Prozeßunfähigkeit sehr eng begrenzt werden muß." 

Zu erinnern (siehe bereits unter Richter-Sachverständigen-Verhältnis) ist an die Entscheidung des EGMR Bock gegen Deutschland vom 29.3.1989. 
In einem Scheidungsverfahren wurde der Mann auf Betreiben der Frau psychiatrisiert. Die Beweiserhebungen in der Frage der Prozeßfähigkeit zogen sich hin. Der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte erteilte der Deutschen Justiz - einschließlich dem Bundesverfassungsgericht (!) - einen kräftigen Denkzettel. 
Wie es scheint, wurde der Mann, selbst beamteter Jurist, durch die unsachgemäße und wohl auch für die Frau parteinehmende Justiz zum "Querulanten". In der Tat war das sich über 9 Jahren hinziehende Verfahren von zahlreichen Ablehnungen, Rechtsmitteln, Rückverweisen und Anwaltswechsel gekennzeichnet, was nach gängiger Einschätzung auf querulatorische Züge einer Partei hindeutet. 
Der EGMR seinerseits forderte über den Geisteszustand des Beschwerdeführers kein weiteres Gutachten über dessen Geisteszustandes ein, sondern rügte scharf die jahrelange Unsicherheit in der Zweifelsfrage seiner geistigen Gesundheit.   
Die Kammer sah die überlange Zeit der anhaltenden Zweifel an ser geistigen Gesundheit des Beschwerdeführers als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK an und sprach ihm betrrächtliche Geldbeträge für Kosten und immateriellen Schaden zu. 
Wesentlich ist die Feststellung, daß für Gerichte "besondere Sorgfaltspflichten" gälten, wenn es um die "Überprüfung des Gesundheitszustandes und der Prozeßfähigkeit von Menschen" gehe. (Ziffer 49) - Hierzu zählt die Pflicht "so schnell wie möglich über die Prozeßfähigkeit zu entscheiden." (Ziffer 47)  



d) Das BSG formulierte im Beschluß vom 5.5.1093 ( Az:. 9/9a RVg 5/92 ): "Bereit diese Feststellung (der Prozeßunfähigkeit) bedeutet einen erheblichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Verfahrensbeteiligten"; sodann: "Die Bestellung eines besonderen Vertreters strahlt wegen ihrer Voraussetzungen auch auf die Teilnahme des Verfahrensbeteiligten am bürgerlichen Rechtsverkehr aus, weil nicht auszuschließen ist, daß aus der Verneinung seiner Prozeßfähigkeit und den entsprechenden prozessualen Folgen Schlußfolgerungen auf seine Geschäftsfähigkeit im bürgerlichen Rechtsverkehr gezogen werden.

Kommentar: Seltenes Beispiel richterlicher Einfühlung: Jeglicher erzwungener Kontakt mit der Psychiatrie trägt das Stigma einer Psychiatrisierung! Die zitierten Passagen wurden vielfach zitiert, so u. a. vom OLG Oldenburg, B.v. 6.3.2008, Az. 6 W 16/08.

e)  Das LAG Rheinland-Pfalz hält im Beschluß vom 5.1.1996 (NZA-RR 1996, 347) einen Beweisbeschluss (Beauftragung eines Sachverständigen zur Frage der Prozeßfähigkeit) nur dann für zulässig, wenn dieser "näher begründet, auf welche Umstände und Tatsachen es seine Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Bf. stützt." Eine Begründung sei wegen des "erheblichen Eingriffs in die Persönlichkeitssphäre des Bf. " notwendig. Im übrigen sei es unzulässig, wenn das Gericht einen auch noch namentlich genannten Sachverständigen beauftragt, denn es sei Sache der Partei, sich um ein geeignetes Beweismittel zu bemühen.
Gangbar sei es, daß das Gericht "als Ausfluß seiner Fürsorgepflicht" einen bestimmten Sachverständigen benennt, um damit auszudrücken, daß es diesem Sachverständigen einen hohen Beweiswert beimesse. "Keinesfalls kann das Gericht jedoch in diesem Zusammenhang einen bestimmten psychiatrischen Gutachter mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragen." Zu derartig weitgehenden Eingriffen gäbe das Gesetz keine Handhabe.

Das OLG Saarbrücken legte in einem Beschluß vom 12.01.1998 'strenge Maßstäbe' an, ginge es doch bei einer sachverständigen (psychiatrischen) Begutachtung um einen "hoheitlichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte".
Eine Prüfung nach § 56 Abs. 1 ZPO sei nur veranlaßt, wenn hinreichende Anhaltpunkte dafür gegeben seien. Dieser gängigen Floskel des BGH folgt: "Nur dann, wenn die Vorstellungen von einer eindeutigen Beeinträchtigung ihrer Rechte nicht mehr nur den Charakter "überwertiger Ideen" tragen, sondern sich weiter intensivieren und Zweifel an der Rechtmäßigkeit der eigenen Position nicht mehr zugelassen werden, absolute Uneinsichtigkeit und Selbstgerechtigkeit sich mit einer Ausweitung des Kampfes vom ursprünglichen Gegner auf andere Menschen und Instanzen und schließlich die ganze Gesellschaft verbinden, kann der Verdacht einer expansiven Wahnentwicklung gehegt werden, der eine sachverständige Feststellung der Prozessfähigkeit erforderlich machen würde, kann der Verdacht einer expansiven Wahnentwicklung gehegt werden, der eine sachverständige Feststellung der Prozessfähigkeit erforderlich machen würde." 
Das Urteil des SaarlOLG ( 5 W 9/97 -8- ) ist leider nur bei Juris vollständig veröffentlicht (zugänglich jedoch in Uni-Bibliotheken), jedoch finden sich die schönen Formulierungen des Saarländischen Senats wieder in einer Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 3.06.2014 / Faksimile-Wiedergabe ( Az.: I-20 U 66/13 )

g) Das KG (Kammergericht) hielt in seinem Beschluß vom 12.9.2000, 1 W 6183/00  (FamRZ 2001, 311; FGprax 2000, 237)  Beschwerderecht gegen eine vorbereitende Zwischenverfügung, mit der in einem FGG-Betreuungsverfahren eine Begutachtung des Geisteszustandes angeordnet wurde (sog. Beweisbeschluß) ausnahmsweise "für geboten", da eine solche die Würde der Person berühren kann und tief in die private und persönliche Sphäre eingreift. Für zumutbar, da noch unterhalb der Schwelle eines schwerwiegenden Eingriffs liegend, hielt das KG hingegen, wenn ein medizinischer Sachverständiger zu einem Anhörungstermin hinzugezogen würde. Die Beschwerde sei (wie vorliegend) begründet, wenn (zuvor) keine Tatsachen festgestellt wurden, die einen Anhalt für eine psychische Krankheit bieten. 

Anmerkung: Es ging hier zwar nicht um eine psychiatrische Begutachtung aufgrund von Zweifeln an der Prozeßfähigkeit einer Partei, sondern um ein Betreuungsverfahren, das in einem Scheidungsverfahren von einer Partei böswillig als Druckmittel angeregt worden war. In Betreuungsverfahren, anders als im Zivilverfahren, kann das Gericht allerdings eine Zwangsuntersuchung, d. h. eine Vorführung, anordnen. Bei Ausübung von staatlichem Zwang obliegt dem Gericht eine erhöhte Begründungspflicht. Immerhin billigte das KG bereits ein Anfechtungsrecht der Zwischenverfügung zu, bevor eine Zwangsmaßnahme angeordnet wurde und, vielleicht noch bedeutsamer, der Senat  verlangte eine mit Tatsachen hinterlegte Begründung, was "aus dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" folge. Problematisch ist allerdings der Hinweis, daß der Richter bei der vorstehenden tatsächlichen Würdigung "nur auf die allgemeine Lebenserfahrung und Menschenkenntnis zurückgreifen kann". Das dies nicht ausreicht, zeigt allein die Pflicht des Richters, ein Gutachten kritisch zu würdigen, weshalb sich auch in jedem juristischen Seminar und in jeder Gerichtsbibliothek psychiatrische Standardwerke befinden. Gemäß dem 1991 neu eingefügten § 404a ZPO hat das Gericht den Sachverständigen zu leiten und kann ihm Weisungen erteilen. Natürlich wurde dieser zuvor vom Gericht ausgewählt. "Allgemeine Lebenserfahrung" reicht dazu sicher nicht aus. Richtig hätte es daher heißen müssen, daß sich Richter an den in der psychiatrischen und juristischen Fachliteratur anerkannten Indizien (für krankhafte Querulanz) zu orientieren hat. Dies jedoch bedeutet: Die individuell sehr gefächerte Fähigkeit der Menschenkenntnis reicht nicht aus, sie wäre eine zu billige Ausrede gegen jedweden Willkürvorwurf. 
Positiv ist zu bewerten, daß das Gericht den milderen Eingriff der bloßen Beobachtung durch einen Sachverständigen in Betracht zieht. Im Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit von Peters/Sautter/Wolff, Stand: Oktober 2011, siehe dort  § 71 SGG (Prozeßfähigkeit), wird im Falle der Weigerung, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen empfohlen, zur mündlichen Verhandlung einen Sachverständigen hinzuzuziehen, "der den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung beobachten und dem Gericht seine auf diesen Beobachtungen beruhenden Schlüsse" mitteilen soll. Ob bloße Beobachtung unter Streßbedingungen hinreichend aussagekräftige Schlüsse erlauben, mag zweifelhaft sein - allerdings stellte die Beobachtung der Interaktion, also auch des Verhaltens der Justiz, eine vielleicht nicht unergiebige Erweiterung der Perspektive des Sachverständigen dar. Dem Gedanken an einen milderen Eingriff folgend, sollte ein in seinen Zweifeln unsicherer Richter jedoch zuvörderst daran denken, zunächst ein Aktengutachten anfordern, da damit kein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht verbunden ist! Vorherrschend in der Gerichtspraxis scheint bislang das Diktum zu sein: Jede Verweigerung einer psychiatrischen Begutachtung führt zum Schluß: partiell prozeßunfähig. In der verquasten Diktion des BVerwG liest sich das so: "Richtig mag sein, daß der Kläger nicht gezwungen werden konnte, sich gegen seinen Willen auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. ... Das bedeutet jedoch nicht, daß es dem Gericht auch verwehrt war, aus der Weigerung, sich untersuchen zu lassen, Schlüsse zu ziehen." 

h) Erneut behandelte das KG Berlin in seinem Beschluß vom 11.9.2001, 1 W 315/01 (FamRZ 2002, 970; NJW-RR 2002, 944) die Frage der vermeintlichen Unanfechtbarkeit einer "lediglich vorbereitenden Zwischenverfügung". Der Senat bestätigte - nach ausführlicher Darlegung der verschiedenen Ansichten - seinen Beschluß vom 12.9.2000 (FamRZ 2001, 311) und postulierte, daß bereits die "bloße Anordnung zur psychiatrischen Begutachtung des Betr. über die Notwendigkeit der Betreuung nach § 68b FGG schon derart schwer in die Rechtssphäre des Betr. eingreife, daß ihre Anfechtbarkeit geboten sei" und leitete dieses Recht zur einfachen Beschwerde vom Verfassungsgebot zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 IV GG ab.  

Diese fortschrittliche Entscheidung wurde durch den BGH - leider - paralysiert (siehe BGH-Beschluß vom 23.1.2008, XII ZB 209/06), der auch im Betreuungsverfahren daran festhält, daß ein Beschluß, der "sich darauf beschränkt" einen Sachverständigen zu beauftragen solange nicht anfechtbar ist, wie der Betroffene "noch" nicht zur Untersuchung verpflichtet wird. In dem konkreten Fall war der Beschluß unrechtmäßig  (willkürlich?) ergangen, weil gar keine Anhaltspunkte für eine Betreuungsbedürftigkeit vorlagen.

Anmerkung: Eine Betreuung wiegt einerseits schwerer, als die gerichtliche Feststellung einer Prozeßunfähigkeit, insofern wäre der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht nicht gleichgewichtig. Jedoch besteht ein wesentlicher Unterschied: Die Betreuungsanordnung erfolgt allein zum Schutze des Betreuten. Der Entzug der Prozeßfähigkeit dient hingegen zugleich dem Interesse des Prozeßgegners sowie der Entlastung des Gerichts. Da keineswegs auszuschließen ist, siehe nur den Fall G., daß ein Zulassungsverfahren vom Gericht willkürlich, also nicht hinreichend durch tragfähige Anhaltspunkte abgesichert, losgetreten wird, es in beiden Fällen um einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeit, nämlich um eine psychiatrische Untersuchung und Begutachtung geht, ist auch bei drohendem Entzug der prozessualen Geschäftsfähigkeit unmittelbar effektiver Rechtsschutz - hier sogar im Falle direkter Konfrontation Individuum/Staat - geboten und daher von Verfassung wegen zu fordern. 

i) Das OLG Düssendorf (B. v. 8.11.2005, I-3 Wx 128/05) zeigte in einem Falle leichtfertiger Psychiatrisierung Sensibilität gegenüber der Schwere des Eingriffs, den jede psychiatrische Untersuchung darstellt. So zitierte es Fälle, in den zunächst Sachverständige mit der Auswertung der Akten beauftragt wurden, bevor ggf. eine Untersuchung der Person zur Klärung von Zweifeln an der Prozeßfähigkeit stattfindet, oder auch, als ähnlich milderen Eingriff, Fälle, in denen der betreffenden Partei aufgegeben wurde, Zweifel an der Geschäftsfähigkeit durch Vorlage eines nervenfachärztlichen Gutachtens auszuräumen. Auch rügte das OLG beim AG einen Begründungsmangel: Spätestens nach Einlegung der Beschwerde gem. § 19 FGG hätte der Amtsrichter dartun müssen, "welche Anhaltspunkte für ernsthafte Zweifel an der Geschäftsfähigkeit der Antragsteller der Beweisanordnung zugrunde lagen." Hintergrund war: Das AG hatte einen unbegründeten Beweisbeschluß verkündet, wonach ein Sachverständigengutachten über die Prozeßfähigkeit der Antragsteller erstellt werden sollte. 

j) Entscheidung des OLG Rostock vom 28.11.2005, 10 WF 254/05, (vollständig bei Juris, unvollständig MDR 2006, 706; FamRZ 2006, 554): 
Das OLG Rostock stellt fest, daß eine Beschwerde gem. § 19 FGG (analog) gegen eine Zwischenentscheidung ausnahmsweise zulässig ist, wenn durch sie in erheblichem Maße in persönliche Rechte eines Beteiligten eingegriffen wird. § 19 FGG sei analog anzuwenden, weil die ZPO keine Regelung enthält, nach der auch Verfügungen des Gerichts angefochten werden können. Zwar unterlägen Zwischenentscheidungen grundsätzlich keinem Rechtsmittel, "ausnahmsweise ist dies aber der Fall, wenn durch die Anordnung in erheblichem Maße in persönliche Rechte eines Beteiligten eingegriffen wird. Die Anordnung der psychiatrischen Begutachtung einer Partei greift unstreitig derart schwer in deren Rechtssphäre ein, daß ihre Anfechtbarkeit geboten ist. Denn eine derartige Begutachtung kann die Würde der betroffenen Person berühren.

Anmerkung: Nicht das Gericht von sich aus, sondern der Antragsteller hatte angeregt, die Prozeßfähigkeit der Antragsgegnerin zu überprüfen. Umso gebotener wäre es gewesen, daß sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck von der betroffenen Partei in einer persönlichen Anhörung verschafft hätte, was wohl nicht geschehen war. Die mit diesem Versäumnis verbundene Gehörsverletzung stand jedoch nicht im Mittelpunkt.  

Die in dieser Entscheidung des OLG Rostock enthaltende Rechtsfortbildung wurde - leider - sehr rasch paralysiert, siehe zunächst das LG München, Beschluß vom 5.11.2008, 1 T 17776/08, mit Zulassung der Rechtsbeschwerde zum BGH, der in seinem Beschluß vom 28.5.2009 dann jedoch einer Auseinandersetzung mit dem vom OLG Rostock aufgeworfenen Gedanken - daß nämlich eine psychiatrische Untersuchung die Würde des Menschen berühren kann - auswich, indem er sich ausschließlich mit der zugleich behandelten Gehörsverletzung beschäftigte. 

k) Mit Entscheidung vom 24.11.2009, 1 W 412/09, schloß sich das KG (notgedrungen) der "gegenteiligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs" (d. h. dem obiter dictum des BGH vom 23.1.2008, XII ZB 209/06an, und hielt nun "einfache Zwischenverfügungen" (hier: Einholung eines Betreuungsgutachtens) doch nicht mehr mit der (weiteren) Beschwerde für anfechtbar. 
Immerhin enthält der BGH-Beschluß vom 23.1.2008 die Feststellung, daß die Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung einer Beklagten nur dann rechtmäßig gewesen wäre, wenn Anhaltspunkte für deren Betreuungsbedürftigkeit gesprochen hätten und man der Betroffenen (zuvor) Gelegenheit zu rechtlichem Gehör gegeben hätte. 

Anmerkung: In dem dem BGH  vorliegenden Falle lagen, anders als im Falle des Kammergerichts, keinerlei Anhaltspunkte vor. Der BGH ließ die Frage offen, "ob auf die Beschwerde hin der Beschluß des Vormundschaftsgerichts mangels jeglicher aus der Akte ersichtlicher Anhaltspunkte für eine etwaige Betreuungsbedürftigkeit der Betroffenen aufzuheben oder - wie vom vorlegenden Oberlandesgericht erwogen - die Sache zur Feststellung etwaiger Anhaltspunkte an das Landgericht zurückzuverweisen ist". 

Kommentar: Der dem BGH vorgelegene Fall riecht geradezu nach einem skandalösen Amtsmißbrauch in Gestalt einer willkürlichen Psychiatrisierung als Ausdruck einseitiger Parteinahme. Seine Argumentation ist widersprüchlich. Umso bedauerlicher ist es, daß der BGH nicht dem KG folgen mochte, und - ausnahmsweise - aus verfassungsrechtlichen Überlegungen heraus ein generelles Beschwerderecht bei Zwischenverfügungen einräumte, die die Anordnung psychiatrischer Untersuchungen zum Gegenstand haben.

l) In einer Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 26.11.2008 (12 Sa 193/07heißt es : "Die Gerichte haben eine in querulatorischem Prozessverhalten ausgelebte Ich-Bezogenheit aufgrund des grundrechtlichen Justizgewährungsanspruchs hinzunehmen, selbst wenn ... erhebliche Kosten der Allgemeinheit, dem Steuerzahler, entstehen..." Das psychologische (!) Zusatzgutachten hatte ergeben, daß "Akzentuierte Wesenszüge", wie vermehrte Kränkbarkeit oder querulatorische Klagetätigkeit i.w.S. des Probanden, nicht wahnhaft seien; folglich sei die Prozeßfähigkeit zu bejahen, auch wenn diese Persönlichkeitszüge von der Bevölkerungsnorm abwichen. 

Anmerkung: Siehe hierzu den Exkurs über Kurt Schneider auf dieser Page. 

m) In der Entscheidung des LSG NRW vom 13.12.2010 ( L 12 SO 208/10 B) werden Zweifel an der Prozeßfähigkeit aus der Anzahl der anhängig gemachten Verfahren, den Inhalt und die Art der Äußerungen hergeleitet. Das Gericht gab dem Kläger Gelegenheit, ihn in einem Erörterungstermin "hierzu" anzuhören. Nachdem der Kläger nicht erschien, legte das Gericht seine Zweifel schriftlich dar, auch hierzu schwieg der Klager. Erst danach ordnete das Gericht mit Beweisanordnung die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens nach Aktenlage an.

Anmerkung: Das Landessozialgericht verfügt offensichtlich über die richtige Einstellung über den Rechtsbegriff "Anhörung", normiert in § 141 ZPO, § 28 VwVfG sowie § 34 FamFG. Dies gilt wohl nicht für alle Gerichte, denn überwiegend wird allein darauf abgehoben, daß die Anhörung der Gewinnung eines "persönlichen Eindrucks" diene. Eine Anhörung sollte - aus der Sicht des Rechtsunterworfenen - darüber hinaus diesem jedoch die Möglichkeit zum Rechtsgespräch (nach hM besteht allerdings kein Anspruch auf ein "Rechtsgespräch", in Worten des BVerfGE 86,145:  ... keine Pflicht (!) zu einem Rechtsgespräch) bieten. In Worten des BVerfG ist der Normzweck: "Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung" (Plenungsbeschluß des BVerfG vom 30.4.2003, BVerfGE 107, 395, Rz.38). Die Lage ist also unklar: das Gericht kann wohl, muß aber nicht in ein Rechtsgespräch eintreten. Bereits der Begriff 'Rechtsgespräch' zeichnet durch schillernder Unklarheit2 aus.

Gegenüber dem sog. "Erörterungstermin" (siehe §§ 175, 207 FamFG; § 139 ZPO) dient die Persönliche Anhörung im Zulassungsstreit - jedenfalls auch - der Gewährung rechtlichen Gehörs. Rechtliches Gehör heißt hier: Das Gericht sollte der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, sich vor dem Beweisbeschluß in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zum eigenen Standpunkt zu äußern. Dies ist natürlich nur dann möglich, nachdem das Gericht explizit die Tatsachen, auf die es seine Zweifel stützteim Einzelnen dargelegt hat. Das Rechtsgespräch ist umso wichtiger, als sich, anders als im Erörterungstermin (s. §139 ZPO), Staat und Bürger unmittelbar gegenüber stehen: Dabei agiert der Richter hier nicht nur als unbeteiligter Dritter, sondern auch als Zeuge (gegenüber Zeugen hat der Betroffene gem. § 397 ZPO Fragerecht), wenngleich "von Amts wegen", d. h. im öffentlichen Interesse. Aus dem Trialog wird hier ein Dialog, in dem der Richter nicht selten auch im Eigeninteresse agiert, also gewissermaßen als Partei. 

n) In der Zwischenentscheidung des LSG Sachsen-Anhalt vom 3.2.2012 Az.: L 5 AS 276/10 B ERerrichtete der Senat in der Tat "hohe Hürden" gegenüber von nicht selten leichtfertig in die Welt gesetzten Zweifel an der Prozeßfähigkeit eines Rechtsuchenden: Senat und Sachverständige leiteten die Kriterien vom § 104 BGB ab und stellten nicht (mehr) die üblichen quantitativen und qualitativen Indizien in den Vordergrund, die gewöhnlich für die Unschädlichmachung von lästigen Querulanten herangezogen werden. 

Soweit ersichtlich, wird erstmals von "hinreichend deutlichen" Anhaltspunkten bereits für die Erhebung von Zweifeln gesprochen und, denklogisch, wird einer Beweislastentscheidung auch kein Raum gewährt, weil die Zweifel nicht "hinreichend deutlich" waren. "Restzweifel" seien nicht geeignet, "ernsthafte Zweifel an der Prozeßfähigkeit ohne hinreichend deutliche Anzeichen für die Annahme einer Prozeßunfähigkeit zu begründen." Die offenen Prozeßkostenschulden von fast € 26.000.-  des Antragstellers hielt der Senat auch nicht dem grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht des Schuldners entgegen - und dies im vorliegenden Falle eines Vielprozessierers (hunderte von Verfahren!), bei dem die Gutachter "Affektdominanz" festgestellt hatten. Unter Bezugnahme auf einschlägige Entscheidungen, mochten die Gutachter des mit richterlichen Zweifeln überzogenen Probanden - trotz angenommener querulatorischer und paranoider Persönlichkeitszüge vom Ausprägungsgrad einer schweren(!) Persönlichkeitsstörung - kein Unwerturteil in der Frage der Prozeßfähigkeit abgeben, da diese erst bei tatsächlich vorliegendem Krankheitswert, etwa einer Wahnerkrankung, anzunehmen sei

Anmerkung: Der Senat hatte dem Gutachter die Frage vorgelegt worden, "ob - auch partiell - Störungen der Wahrnehmung, der Einsichtsfähigkeit oder der Willensbildung und/oder -betätigung" vorlägen. Die gleichen Fragestellungen wären bei fraglicher Geschäftsfähigkeit (§ 104 BGB) zu stellen gewesen. Mit dieser Fragestellung wich der Senat von der herrschenden Meinung der Gerichte ab und schloß sich der Mindermeinung, etwa Musielaks (NJW 1997, 1739), an.
Die Entscheidung läßt erstaunen: Der psychiatrisierte Antragsteller wies nahezu alle gängigen
Indizien für Querulanz auf, wie sie in jedem Lehrbuch aufgelistet sind: eine riesige Anzahl losgetretener Verfahren, Richterablehnungen, Anhörungsrügen, verbissener, scharfen Stil, Beleidigungen und verbalen Bedrohungen. Umso erstaunlicher ist es, daß der Senat, dies auch noch allein aufgrund eines bloßen Aktengutachtens (!), seine Zweifel auszuräumen vermochte, nachdem sich der Proband recht geschickt den mehrfach angeordneten psychiatrischen Untersuchungen entzogen hatte.
Ob die Entscheidung des LSG Sachsen-Anhalt Nachfolge bei Obergerichten findet und damit die Schwelle für Prozeßunfähigkeit deutlich in Richtung auf den Nachweis einer "paranoiden Schizophrenie im Sinne einer Geisteskrankheit" hochgesetzt wird, dürfte eher zweifelhaft sein.

Bislang jedenfalls übernahm lediglich das Sozialgericht Kassel diese lobenswert restriktive Auslegung des Rechtsbegriffes "Prozeßfähigkeit". siehe die dortige Entscheidung vom 13.3.2012. Die Kasseler Kammer vermochte, trotz riesiger Zahlen an anhängig gemachten Verfahren und als rechtsmißbräuchlich eingestuften Ablehnungen, - noch - keine Wahnentwicklung erkennen, da der Kläger nämlich in der Lage war, "deutlich und substantiiert seine Ansichten zu formulieren, was dem Fehlen einer freien Willensbestimmung widerspricht." Der Kammer reichte also bloße Quantität nicht aus, obwohl Rechtsmißbrauch doch wohl juristisch zur Qualität zu rechnen wäre - nicht jedoch psychiatrisch ...

Zusammenfassende Würdigung: 
Die Entscheidung des LSG Sachsen-Anhalt vom  3.02.2012 ist eine von juristischer Logik gesteuerte Sternstunde bundesdeutscher Justiz eines Gerichts der neuen Bundesländer. Die Zwischenentscheidung ist geradezu ein Lehrstück auf dem Boden des Grundgesetzes. Zunächst wird zwischen "deutlichen Hinweisen" = "hinreichende" Anhaltspunkten und (lediglich) Restzweifeln unterschieden. Sodann wird postuliert, daß keineswegs eine "Vielzahl betriebener Gerichtsverfahren" für die Annahme bestehender Prozeßfähigkeit ausreicht, denn: "hinzukommen müssen Anzeichen für einen Querulantenwahn." Der Senat zitiert mehrere BGH-Entscheidungen und kommt zum Schluß, daß auch "extrem querulatorisches Verhalten " auf der Basis "paranoider Persönlichkeitszüge vom Ausprägungsgrad einer schweren Persönlichkeitsstörung" nur dann für den Entzug der Prozeßfähigkeit hinreichen, wenn - zudem - eine Geisteskrankheit vorliegt, also etwa ein Wahn, der "schwerwiegende Störungen des formalen Denkens" mit sich bringt. Die beiden Sachverständigen (Dr. G und P. ) vertraten offensichtlich die Grenzziehung Nedopils: Norbert Nedopil, heute wohl (noch) die Nr. 1 unter den forensischen Psychiatern, vertrat bereits 1985 die Meinung (und vertritt diese noch), daß Prozeßunfähigkeit bei Querulanten nur dann besteht, wenn durch eine wahnhafte Entwicklung der Bezug zur Realität verloren gegangen ist und sie durch den Wahn in ihrem Denken und Handeln eingeengt und deshalb nicht mehr in der Lage sind, neue Argumente zu berücksichtigen (Norbert Nedopil, Schuld- und Prozeßfähigkeit von Querulanten, Forensia 1985, 185-195). Das LSG Sachsen-Anhalt folgte also der Auffassung Nedopils.

Geradezu avantgardistisch mutet sodann der Satz an: "Für eine auf die Verweigerung der Begutachtung gestützte Beweislastentscheidung ist kein Raum." Damit verneint das LSG eine Mitwirkungsverpflichtung: Niemand muß sich hiernach einem Sachverständigen anvertrauen, den er nicht kennt.  Der Senat stellt sich damit allerdings gegen die ständige Rechtsprechung, allerdings nur dann, wenn die Zweifel "hinreichend" (= deutlich) fundiert waren. Wie gesagt: Restzweifel streiten zugunsten der betroffenen Partei.

Besonders positiv hervorzuheben ist: 
Das LSG setzte Bezüge zum Grundgesetz: Selbst selbst- oder gemeinschädigendes Verhalten eines verbissenen Querulanten sei "kein Anhalt für Wahn oder ein Grund für die Annahme einer Prozessunfähigkeit", habe doch das BVerfG (in gewissen Grenzen) eine "Freiheit zur Krankheit" postuliert, abgeleitet vom grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht und dem Verbot staatlicher Erziehung Erwachsener. Allein entscheidendes Kriterium bleibe die Freiheit der Willensbestimmung. Im Klartext heißt dies: Ein Querulant  bleibt solange prozeßfähig, wie sein prozessuales Vorgehen in sich konsistent ist und er folglich (noch)  kein deutliches Wahnanzeichen zeigt. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, daß ein LSG zwecks Untermauerung seiner - lobenswerten - Ansicht auf eine Entscheidung eines popeligen AGs (Garmisch-Partenkirchen) zurückgriff. 


o) Das LSG Berlin-Brandenburg hat sich in einer Zwischenentscheidung vom 17.12.2012 um die Erschöpfung der Amtsermittlungspflicht verdient gemacht: So belehrte es das SG Berlin, daß ein Vortrag "in einem verworrenen Wortschwall" sowie "zusammenhanglose" Bezugnahme auf Paragraphen" "etwas durchaus übliches (!) vor den Sozialgerichten" darstelle. Und, noch wichtiger, die Ablehnung einer psychiatrischen Begutachtung entbinde ein Gericht keineswegs, in Hinblick auf die Prozeßfähigkeit weitere Ermittlungen anzustellen, hier insbesondere die Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage. Das Berliner Sozialgericht hatte zuvor einen 'Erörterungstermin' bereits nach 10 Minuten abgebrochen, "weil es eine sinnvolle Fortsetzung des Termins in Hinblick auf den Zustand der Klägerin für nicht möglich hielt." Der Eindruck, den das Gericht nach lediglich zehn Minuten habe gewinnen können, müsse nicht unbedingt zutreffend gewesen sein. Bravo!

p) In der bereits unter f) erwähnten Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 3.6.2014,siehe RZ 21, vertritt der Senat - unter Zitierung des OLG Saarbrücken, 12.1.1998 - die Auffassung, daß Zweifel an der Prozeßfähigkeit nur dann berechtigt sind, wenn Anhaltspunkte für eine "expansive Wahnentwicklung" vorgetragen wurden. Wie es scheint, war mit entscheidend, daß die Klage begründet war.

q) Selbst tausende (!) von Klagen müssen nicht Indiz für Prozeßunfähigkeit sein. Dem BSG (Beschluss vom 28.11.2014 - B 10 ÜG 8/14 BH) fehlte es "an Hinweisen auf eine schwere Psychopathologie". 
Bereits das LSG Baden-Württemberg hatte mehrere nervenärztliche Gutachten eingeholt, die einmal für, sodann jedoch gegen die Annahme einer Prozeßunfähigkeit plädierten. 
Zwar ging der Senat "von einer verfestigten Persönlichkeitsstörung mit narzistischen und querulatorischen Zügen" des Klägers aus, dem es Freude bereite, "die Gerichte zu beschäftigen oder gar lahmzulegen". Jedoch sei seine "Fähigkeit, im Rahmen dieses Interesses zahlreiche Verfahren zielgerichtet zu verfolgen und jeweils durchaus situationsangemessen vorzutragen und auf gerichtliche Verfügungen zu reagieren" nicht beeinträchtigt gewesen. 
Kommentar: 
Die Entscheidung ist ein Schritt in die richtige Richtung: Quantität allein reicht nicht hin, um einen mündigen Bürger mittels psychiatrischer Diagnose aus dem Rechtsverkehr zu ziehen. Gegen Rechtsmißbrauch hat sich der Staat anderer Abwehrmaßnahmen zu bedienen als der Psychiatrisierung. Das Verfahren offenbart jedoch die verbreitete Dienstbarkeit der Psychiatrie, hier in Gestalt des Richtergehilfen "Prof. Dr. T. " (Rn. 3 u. 4); s.a. die Kommentierung von Büser:
- file:///C:/Users/das/Downloads/ProOnline-Urteile-Bsg,28.11.2014-B10%C3%9Cg8-14Bh%20(2).pdf

 
Daß Quantität nicht hinreicht, mußte eine Gothaer Richterin erfahren, der das
LAG Erfurt am 11.7.2000 (5 Ta 64/2000) eine schallende Ohrfeige erteilte. Diese hatte einen Vielprozessierer ohne weitere Nachprüfung als prozessunfähig behandelt, der nach Bewertung des LAGs Schriftsätze von einer durchwegigen Qualität gefertigt habe, "die so mancher Anwaltsschriftsatz vermissen läßt". 
Das LAG vertrat die - richtige - Auffassung, daß allein die Quantität gerichtlicher Eingaben für den Entzug der Prozeßfähigkeit nicht hinreicht - und dies wohl auch aufgrund verfassungsrechtlicher Überlegungen! 

Als Gegenbeispiel sei das LG Göttingen genannt, in dem die Richter Zweifel an der Prozessfähigkeit einer Frau allein durch Anzahl und Wechsel der Zahnärzte sowie Anwaltswechsel begründeten.

r) Eine Vielzahl von Gerichtseingaben selbst aus "Freude, die Gerichte zu beschäftigen oder gar lahm zu legen" reicht zur Begründung von Prozeßunfähigkeit nicht aus, solange der Antragstellen fähig ist, "situationsangemessen vorzutragen und auf gerichtliche Verfügungen zu reagieren (nicht) beeinträchtigt ist oder gewesen sein könnte" das BSG vom 12-02-2015 - B 10 ÜG 8/14 B

Kommentar:
Das Bundessozialgericht ist, diesen Eindruck gewinnt man aus der jüngsten Entscheidungslinie, mit Richtern besetzt, die es beim engeren medizinischen Krankheitsbegriff belassen möchten. Die gesellschaftliche Relevanz querulatorischen Klageverhaltens tritt derzeit in den Hintergrund. Man darf gespannt sein, welche Gegenmaßnahmen seitens des Gesetzgebers ersonnen werden, um die 'Funktionsfähigkeit der Institution Gerichtsbarkeit' nicht zu gefährden. Es wäre an der Zeit, die Alleinzuständigkeit der Psychiatrie infrage zu stellen sowie mehr Kompetenz auf Seiten des Gerichts zu fordern - beginnend damit, daß Richter willens und fähig sind, mit rechtssuchenden Bürgern dialogisch umzugehen, also deren Recht auf Gehör zu respektieren, wie der Verf. dieses persönlich in Italien erleben konnte. 
Denn eine der Hauptursachen für die Entstehung von Querulanz liegt in der spezifisch deutschen Schreibjustiz bei gleichzeitiger Scheu vor persönlicher Begegnung in der mündlichen Verhandlung. Fächerübergreifend (Psychologie, Soziologie, Recht) wären es wünschenswert, der seit langem entwickelten Psychopathen-Typologie eine Richtertypologie gegenüberzustellen! Rechte und Pflichten beider Seiten  - Richter und Bürger - verdienen gleiche Aufmerksamkeit - dann könnte die Regel queruliert wird immer von unten nach oben ihre absolute Geltung verlieren.




s) Was es eigentlich in der Rechtsprechung nicht geben sollte: Humor 

Hier ein Beispiel:

Das Verwaltungsgericht Lüneburg hat den Antrag auf ein vorläufiges Ruhen der Jagd auf den Grundstücken des Eigentümers abgelehnt. Das Gericht hat in seinem Beschluss ausgeführt:

Das Verwaltungsgericht Lüneburg hatte zu prüfen, ob ein Grundeigentümer die Ausübung der Jagd durch Dritte auf seinem Grundstück trotz entgegenstehender ethischer Motive dulden muss. Das Verwaltungsgericht hat hierzu in einem konkreten Fall entschieden, dass diese Duldungspflicht besteht (Beschl. v. 11.3.2013, Aktenz: 6 B 5/13).

Nach dem Bundesjagdgesetz gehören Eigentümer von Grundstücken mit einer Fläche von weniger als 75 ha kraft Gesetzes einer Jagdgenossenschaft an. Es handelt sich um eine gesetzliche Zwangsmitgliedschaft. Die Eigentümer müssen die Bejagung ihrer Flächen durch Dritte dulden, wenn die Jagdgenossenschaft die Jagd verpachtet oder aber durch angestellte Jäger ausüben lässt. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom Juni 2012 kann die Pflicht eines Grundeigentümers, die Ausübung der Jagd trotz entgegenstehender ethischer Motive dulden zu müssen, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (Schutz des Eigentums) verstoßen. Das deutsche Jagdrecht soll daher geändert werden: Wenn der Grundeigentümer glaubhaft macht, dass er die Jagdausübung aus ethischen Gründen ablehnt, sind seine Flächen zu befriedeten Bezirken zu erklären, in denen die Jagd ruht. Unter Berufung darauf begehrte ein Grundstückseigentümer gegenüber dem Landkreis Harburg als Jagdbehörde den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, dass auf seinen Grundstücken die Jagd nicht ausgeübt wird.


Das Verwaltungsgericht Lüneburg hat den Antrag auf ein vorläufiges Ruhen der Jagd auf den Grundstücken des Eigentümers abgelehnt. Das Gericht hat in seinem Beschluss ausgeführt:


Zum einen ist eine Entscheidung durch das Gericht nicht erforderlich, weil sowohl die Jagdpächter als auch die Jagdgenossenschaft erklärt haben, auf die Jagd auf den betroffenen Flächen des Grundstückseigentümers vorerst zu verzichten, und sie weiter erklärt haben, dass die sich aus der Mitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft ergebenden Rechte und Pflichten vorerst ruhen. Zum anderen sind die ethischen Motive des Grundstückseigentümers bisher nicht in der erforderlichen Weise glaubhaft und nachvollziehbar gemacht. Die ethischen Motive des Grundstückseigentümers, aus denen heraus die Jagd auf den eigenen Flächen abgelehnt wird, sind nachvollziehbar darzulegen, die bloße Behauptung reicht also nicht aus. Es muss verlangt werden, dass der Grundstückseigentümer objektive Umstände glaubhaft macht, die das Vorliegen einer ernsthaften und echten tiefen Gewissensentscheidung nachvollziehbar machen, sodass zumindest die überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein ethischer Motive spricht. Die Gewissensentscheidung muss ein bestimmtes Maß an Kraft und Bedeutung besitzen und einen bestimmten Grad von Entschiedenheit, Geschlossenheit und Wichtigkeit erreichen, die Entscheidung muss tief verankert sein. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht glaubhaft gemacht worden, weil der Antragsteller lediglich die Behauptung aufgestellt hat, er lehne die Jagd aus ethischen Gründen ab, ohne dies näher darzulegen und zu vertiefen. Gegen den Beschluss ist die Beschwerde zum Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zulässig.



Kommentar
Der Fall weist folgende Parallele auf, nämlich die sog. gesetzliche Vermutung. Gesetzlich vermutet wird nicht nur, daß es "normal" ist, erjagtes Fleisch zu essen, sondern auch, daß ein Volljähriger uneingeschränkt prozeßfähig ist. Zwischen beiden besteht jedoch ein grundlegender Unterschied: 
Während es zumindest bezweifelt werden kann, inwieweit ein Mensch ein ethisch begründetes Recht der Wildtiere auf Nichtbejagung bzw. ein Recht auf Respektierung seines persönlichen Mitleidens bezogen und begrenzt auf sein Grundeigentum geltend machen kann, geht es bei staatsseitigen Zweifeln an der Prozeßfähigkeit eines mündigen Rechtsunterworfenen um ein unmittelbares Grundrecht.


Gemäß dem Argumentum a maiori ad minus ist daher festzustellen: Wenn sogar der Jagdpächter objektive Gründe glaubhaft machen muß, gilt dies erst Recht für die Zweifel eines Richters am Geisteszustand eines Menschen. Die Begründungspflicht liegt also auf der Hand, denn es geht hier nicht um Tiere, denen der Jagdtod droht, sondern um Menschen, denen der sog. "bürgerliche Tod" droht (=Verlust der prozessualen Geschäftsfähigkeit).




Anmerkung:
Es ging um die Frage, ob ein Adhärent in einem Strafverfahren ablehnungsberechtigt ist. Auf die sofortige Beschwerde des Ast. (s. Impressum dieser Site) lieferte das LG Heidelberg im anlehnenden Beschluß vom 03.April 2006 folgende Begründung: "... ist eine Ablehnungsberechtigung des Adhäsionsklägers weder im allgemeinen Teil, noch in den §§ 403 ff StPO ausdrücklich normiert, so daß es erkennbar dem gesetzgeberischen Willen entspricht, ihn nicht mit derart weitreichenden Rechten auszustatten.

Vereinfacht argumentierte das LG - in verfassungsrechtlicher Hinsicht unsinnig -  wie folgt: Was nicht geregelt ist, wollte der Gesetzgeber eben nicht ...  (schlichter Blödsinn!) 

Der Verf. erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe und obsiegte denn auch in vollem Umfang, siehe die Entscheidung der 1. Kammer des 2. Senats vom 27.12.2006 - 2 BvR 958/06. Der Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts diesen Beschluß immerhin für so bedeutsam, daß er in den BVerfGK  ((Auswahl der wichtigsten Kammerentscheidungen), dort Bd. 10, S. 142-148, aufgenommen wurde. 

2 siehe nur:
- https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsgespr%C3%A4ch
- http://www.spiegel.de/wirtschaft/stichwort-was-ist-ein-rechtsgespraech-a-293398.html