§ 56 ZPO - Freibrief für Willkür?

"Je weniger Halt das Gesetz dem Richter gibt, desto größer wird der Einfluß außerrechtlichen Faktoren." (Mishra, ZRP 1998, 406)

Als reines Richterrecht wurde folgendes entwickelt:

Bevor ein Beweisbeschluß hinsichtlich der Überprüfung der Prozeßfähigkeit ergeht, muß der betroffenen Partei "rechtliches Gehör" zur den vom Gericht zuvor zu äußernden und zu konkretisierenden "Bedenken" gewährt werden, und zwar persönlich. Dies erfolgt zwingend in mündlicher Verhandlung über den Mangel, so jedenfalls Bork (Stein/Jonas 22.Aufl., § 56 Rn. 5 ) und auch Zeiss, der die Prüfung der Prozeßfähigkeit von Amts wegen "gleichsam zwischen Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz" begreift und ausdrücklich feststellt: "Es bleibt beim Verhandlungsgrundsatz" (Zeiss, Zivilprozeßrecht,  1993, Rn. 180 = S. 69). Wird diese Verhandlung im Zuge der Offizialprüfung (ex officio = von Amts wegen) versäumt, kann Beschwerde eingelegt werden, im Falle der Nichtabhilfe auch Verfassungsbeschwerde. 

Ein wesentlicher Zweck dieser Verhandlung ist die Gehörsgewährung (grundrechtsgleiches Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG). Von der Rechtsprechung hervorgehoben wird regelmäßig,
daß sich das Gericht einen "persönlichen Eindruck" verschaffen können soll (damit geht es um das Verhältnis von Person (des Richters1) zu Person (des Rechtsunterworfenen). Wichtiger für den Betroffenen ist: Die mit Zweifel überzogene Partei soll sich zu den "Zweifeln" des Richters in tatsächlicher Hinsicht hinreichend äußern und darüber eben "verhandeln" können. Genau das letztere findet In der gerichtlichen Praxis freilich nicht statt, denn der Richter meidet erfahrungsgemäß jegliches Verhandeln und weicht so der gebotenen Begründung seiner Zweifel aus. Der Richter prozediert den sog. Zulassungsstreit also als quasi Offizialverfahren ohne in dieser Frage zuvor zwingend glaubt verhandel zu müssen (obwohl der Verhandlungsgrundsatz im Zulassungsstreit nicht aufgehoben ist) und schafft damit eine Lage, die weitgehend derjenigen, die 1884 in der Entmündigungsfrage herrschte, entspricht: "Der zu Entmündigende ist im amtsgerichtlichen2 Entmündigungsverfahren nicht Partei ... er ist Wahrheitserforschungsmittel, er ist nicht Subjekt, sondern Objekt des Untersuchungsverfahrens." (Birkmeyer, Zs. f. .d. dt. Civilprozess, 1884, 439). 

Das Entmündigungsverfahren findet sich heute leidlich - grundrechtekonform - reformiert, nicht jedoch das Zulassungsverfahren bei richterlichen Zweifeln an der Prozeßfähigkeit des Klägers!

Was nun eigentlich sagen Höchstgerichte zu der Qualität richterlicher Zweifel?

Floskelhaft3 heißt es in den richtungsweisenden BGH-Urteilen: die Zweifel müßen "hinreichend" bzw. "ausreichend" sein - eine Antwort ohne jede Substanz. Das Operieren mit unbestimmten Rechtsbegriffen öffnet bekanntlich Mißbrauch Tür und Tor, denn: was "hinreichend" und "ausreichend" ist, liegt vollständig im Ermessen des einzelnen Richters, dies umso mehr, als die Rechtsordnung gegen Beweisbeschlüsse generell kein Beschwerderecht zubilligt. 

Tröstlich stellte das BayObLG am 27.7.2000 (WuM 2000, 565) fest, daß "ernsthafte" Zweifel auf Tatsachen beruhen (müssen): Allein die "Vielzahl" der betriebenen Verfahren erlaube keine (!) "hinreichenden" Schlüsse, die "ernsthafte" Zweifel an der Geschäftsfähigkeit begründen könnten. Das Bayerische Oberste Landesgericht wurde zwischenzeitlich aufgelöst.

Pohle plädierte regelrecht für eine neue "Kautschukbestimmung", um mit Querulanten leichter fertig zu werden (Pohle, MschrKrim 1933, 589). Sein Wunsch ging in Erfüllung: Über die Hintertür wurde - mittels Richterrecht - der § 56 ZPO zu einem Kautschukparagraphen weiterentwickelt.

Zwar in keinem der Urteile  angeführt, so gilt doch folgender Grundsatz: Die Anforderungen an die Substantiierungslast müssen im Verhältnis zur Schwere des Grundrechtseingriffs stehen. Bei Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung wären sie hiernach sehr hoch! 

Wenn Gewährung von Gehör verhindern soll, daß der Rechtsunterworfene "Objekt" staatlicher Willkür - im Klartext: Opfer staatlicher Willkür - wird, muß der Betroffene die Verdachtsindikatoren (Anknüpfungstatsachen, Indizien) erfahren und zu diesen Stellung nehmen können. Der Richter sollte seine Zweifel durch Offenlegung seiner Anknüpfungen (Schlußfolgerungen) begründen müssen. Eine diesbezügliche gesetzliche Vorschrift existiert jedoch bislang nicht.

Gehörsgewährung erwächst dem Willkürverbot (von Art. 3 GG ableitbar). Komplementär dazu ist das Recht des Rechtsunterworfenen auf Rechtfertigung. Willkür ist das Gegenteil von Recht.

Wenn der Richter von einer rechtssuchenden Partei vernünftiges Prozeßverhalten erwarten und der Partei im Falle unvernünftigen prozessualen Verhaltens das Justizgewährungsrecht  absprechen kann, so fordert dies eine der Schwere des Eingriffs entsprechend umfangreiche Begründungspflicht, denn generell gilt, daß nur eine Begründungspflicht der Würdigungsfreiheit des Richters entspricht (Gerhard Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, 324, unter Bezugnahme auf Taruffo).

Im Betreuungsverfahren dient eine gerichtliche Anordnung, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen, allein dem Wohl des Betroffenen. Anderes gilt im Zivilverfahren, wo es auch um Interessen anderer (des Gegners und der Institution) geht. Wenn der BGH im Beschluß vom 14.3.2007 (nur) dann Beschwerderecht zugesteht, wenn die Anordnung "objektiv willkürlich" war, d. h. "unter Berücksichtigung des Schutzzweckes von Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot) und 103 Abs 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) nicht mehr verständlich erscheint", müßte diese Schwelle eher niedriger sein - etwa Verbot einer Ausforschung - , weil das Gericht auch im eigenen Interesse handelt und entscheidet. 



Anmerkungen:

1 über die konkrete Person des Richters und findet man in der Literatur kaum Entäußerungen, denn Richter verstecken sich gerne hinter der Maske ihrer Institution. Eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen stellt Egon Schneider dar. In seiner kleinen aber umso bedeutenderen frühen Schrift "Recht und Gesetz" (1967, Seite 9) erteilt Schneider einen geldwerten (!)  Rat, der zeitlose Gültigkeit beanspruchen kann: Es sei für den Rechtsanwalt, der einen Scheidungsprozeß einleitet, "unter Umständen viel wichtiger, die Person des Richters genau zu kennen als etwa einschlägige Entscheidungen des Bundesgerichtshofes." Kein Zufall, daß gerade Schneider sich späterhin immer wieder mit dem Versagen von Richtern als Person befaßte, hier insbesondere mit richterlicher Befangenheit, siehe nur sein Standardwerk über Richterablehnung. Egon Schneider, ehemaliger Vorsitzender Richter am OLG Köln, ist eine der ganz wenigen Lichtgestalten.

2 Das Entmündigungsverfahren wurde anno 1884 zweistufig angelegt: Das Amtsgerichtsverfahren (keine Verhandlung, sondern Untersuchungsform - der Betroffene ist Objekt) stellte nur die erste Stufe dar. Es folgte, auf Klage hin, die zweite Stufe (als kontradiktorisches Offizialverfahren) vor dem Landgericht, dort dann unter Teilnahme des Staatsanwalts als Vertreter des öffentlichen Interesses, womit der Betroffene eine Parteistellung (der Betroffenen ist Subjekt) gewann und  "verhandeln" konnte. 

3 Floskelhafte Begründungen stehen einer fehlenden Begründung gleich, siehe OLG Thüringen B. v. 12.9.1996, FamRZ 1997, 758.