Zum Kontinuum der Typologien und Krankheitsbilder: Typologien eignen sich grundsätzlich zur Beförderung (sozial-)politischer Ziele, als Beispiel sei nur der deutsche Protagonist der NS-Rassenideologie, Hans F. K. Günther genannt. Man kann Hofstätter nur zustimmen, wenn er warnt: "Typenlehren reduzieren die komplexe Variabilität der Kulturen auf ein einziges Kontinuum; sie beengen daher den Blick eher, als daß sie ihn erweitern." (Einf. i. d. Sozialpsychologie, Kröner 1973, 5. Aufl., 112) Während die spezifisch obrigkeitsstaatlich-deutsche Charakterologie (auch: Charakterkunde, Beispiele: Riemann (4 "Charaktertypen"), König: 6 "Charakterstrukturen") als Teilgebiet der Psychologie ein Bestandteil der universitären Lehre war, entwickelte die Psychiatrie ihrerseits neben wenigen Krankheitskomplexen - nämlich nur drei1 - diverse "Charakter"-Typologien und produzierte - laut ICD - 600 (in Worten: sechshundert!) Diagnosen. Zum Charakterbegriff siehe unter "Psychiater oder Psychologe?" Dörner hielt das Reden von einer gemeinsamen Fachsprache für "lächerlich" aufgrund der empirischen Tatsache, daß bei der Einordnung in diagnostische Kategorien kaum 50% Übereinstimmung zwischen den gleichen Patienten und verschiedenen Psychiatern herrscht (Klaus Dörner, Diagnosen der Psychiatrie, 1975, S. 140). Indes: die Phantasie scheint grenzenlos2. Entsprechendes gilt für die psychiatrischen Krankheitsbilder und die dazugehörigen Checklisten. So wurde an der Charité (Berlin) doch kürzlich - im Anschluß an die bekannte "posttraumatische Belastungsstörung", hierzu kritisch Schwenn - eine neue Krankeitsbezeichnung als Subtyp der Anpassungsstörung entwickelt: die "posttraumatische Verbitterungsstörung", dies mit dem Ziel einer Aufnahme in die ICD-10. Schwenn bezeichnete, sicherlich nicht realitätsfern, den als Zeugen im Kachelmann-Prozeß geladenen Psychiater und Traumatherapeuten Günter H. Seidler als "Verbündeten des angeblichen Opfers" (Schwenn in: Darnstädt, Der Richter und sein Opfer, 2013, 171). Schwenn konnte sich auf die Einschätzungen des Kieler Rechtspsychologen Günter Köhnken stützen, über die Gisela Friedrichsen in SPIEGEL ONLINE referierte. Es versteht sich, daß das Mannheimer LG doch lieber dem Psychiater Seidler Glauben schenken mochte als dem Psychologen Köhnken, um die anfänglich mit Übereifer vollzogene, höchst fragwürdige monatelange Inhaftnahme Kachelmanns im Schulterschluß mit dem Mannheimer Staatsanwalt zu rechtfertigen. Ein selbstkritischer, fast amüsanter Beitrag findet sich im im Rundbrief der GEP, dort auf den dort Seiten 8-10. Anders amüsant sind auch die Erläuterungen des "Hochstaplers" Gert Postel/Feature. S. a. die Sympathiekundgebung eines BGH-Juristen. Nicht selten purzeln die Begriffe wie Charakter, Persönlichkeit, normal und krank durcheinander, und unbezweifelbar ist noch nicht einmal die Begriffsbestimmung innerhalb der Psychiatrie eine einheitliche. So bezeichneten Gutachter im Jahre 1988 einen wegen Untreue angeklagten Amtmann als "hypomanische Persönlichkeit", die - trotz "hypomanischer Charakterform" - einzuordnen sei in den weiten Kreis der normalen Menschen, und daher schuldfähig sei3. Die gleiche diagnostische Typisierung - die Einteilung nach Typen soll der sog. "Differentialdiagnose" dienen(!)3a - , die im Strafrecht als "normal" gilt, kann bei einer störenden Partei im Zivilverfahren "krankheitswertig" sein, mit der Folge, daß diese für prozeßunfähig erklärt wird. Nedopil spricht von "unterschiedlichen Ordnungsbedürfnissen", die der Bewertung unter den unterschiedlichsten Aspekten dienen, so etwa hinsichtlicher der kriminellen Aggressivität, sexualwissenschaftlich, usw. (N. Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2000, S. 238) Jede Isolierung von Typen4 bezweckt, wie bei der Isolierung von Rassen, eine Isolierung der Individuen, mit ihr ist immer auch eine Diskriminierung verbunden, denn immer geht es um Bewertungen im Sinne von höher oder tiefer bzw. gesund und krank, siehe hierzu die Kritik an Kurt Schneider auf dieser Page. Unübersehbar in den Typisierungen der maßgebenden Psychiater die sozio-politische Brandmarkung, z. B. die Psychopathen-Kategorie der "Gesellschaftsfeinde" des großen Kraepelin. Dieser gesellschaftspolitische Ansatz kulminierte in der NS-Ära in der sog. "Kieler Schule", für die Dahm und Schaffstein (Strafrechtler der Kieler Stoßtruppfakultät") stehen. Der Strafprozeß sollte "wertbetonte Typensonderung" sein. Die Tätertypenlehre ging von dem Grundsatz aus: "Verbrecher wird man nicht, Verbrecher ist man".5 Die Ableitung der NS-Tätertypenlehre von Kurt Schneiders charakterologisch-gesellschaftsbezogenen Typen war naheliegend. Aber auch die konventionelle Querulantenlehre ist wesentlich charakterologisch fundiert, siehe dazu nur die Darstellung von Faust. Allgemein gesprochen kann festgestellt werden: Charakterologische Typisierungen sowohl im Straf- als auch im Privat- und Verwaltungsrecht sind Ausdruck totalitärer oder doch obrigkeitsstaatlicher Verhältnisse. Insbesondere vor und in der NS-Zeit wurden Tätertypen auch zu Rechtsbegriffen: So fand sich in den §§ 20a, 42c RStGB der Begriff "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" und, dementsprechend, in Art. 42 Schw.StGB der Begriff "Gewohnheitsverbrecher". Bachhiesl6 nennt die Wegmarken: Zu Beginn standen die in der deutschen Romantik verwurzelten Ganzheitslehren. Es folgten die Lehren Ludwig Klages7 und anderer ganzheitlich orientierter Gelehrter, wie Philipp Lersch8. Diese (aus heutiger Sicht) höchst fragwürdigen Zuschreibungsmethoden waren offen für ideologisch-weltanschauliche Elemente, die in sie insbesondere in der NS-Zeit einflossen. Begriffe wie 'Weltanschauung' waren noch längere Zeit nach 1945 durchaus gebräuchlich. Auch die noch heute verbreiteten Querulanten-Typisierungen wurzeln in der deutschen Romantik: Kleists Kohlhaas datiert in das Jahr 1808-10. Der später daraus abgeleitete Typus basiert auf einer Mißdeutung9. In der Nachkriegszeit rückten Begriffe wie 'Charakter' oder 'Weltanschauung' zwar zunehmend in den Hintergrund, sie verschwanden jedoch nicht wirklich. In Karl Leonards Typologie der sog. 'akzentuierte Persönlichkeiten' etwa feierten u. a. "Charakterzüge" fröhliche Urständ. Um abschließend zur Eingangsthese zurückzukehren: Es gibt bis heute keine einheitliche Theorie der Persönlichkeit. Insbesondere amerikanische Psychologen unterscheiden den ideographischen vom nomothetischen Ansatz: - im ersteren, dem ideographischen, werden die Persönlichkeitseigenheiten eines jeden Menschen als einzigartig angesehen, die am ehesten in der sog. biographischen Methode zu erfassen sind, - im letzteren, dem nomothetischen, geht es um die Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten, in unserem Kontext letztlich also um "Alles-oder Nichts-Phänomene" (Zimbardo, Psychologie, 1995, 477), um die Erstellung statischer Typologien (hierzu zählen auch Rassenlehren und die urdeutschen Charakterlehren) aufgrund allgemeiner Persönlichkeitmerkmale. Die US-amerikanische Psychologie unterschied sich grundlegend von der deutschen durch ihre Anwendungsbezogenheit, ganz entsprechend dem dort herrschenden Pragmatismus und Funktionalismus: - so interessierten sich die amerikanischen Forscher seit ca. 1920 für Konditionierung des äußeren Verhaltens - Behaviorismus - , dies bei Ablehnung der Introspektion (der Mensch wurde im Labor durch die Ratte ersetzt; Anderson, Kognitive Psychologie, 1996, S. 9 ) - und seit den 1950er Jahren gewann die sog. kognitive Psychologie Raum: Erkenntnisgewinn versprach der Aufbau des Gehirns, aber auch die Linguistik (Chomsky), vieles angestoßen von der parallel sich entwickelnden Computerwissenschaft. Die Fachsprache der Psychiatrie besteht also im Wesentlichen aus Typenbegriffen. Eine Kritik, wie man sie etwa in der Politikwissenschaft findet10, kann man weithin vergeblich suchen. Problematisch wird ein typologisch begrenztes Schubladendenken deutscher forensischer Psychiater spätestens dann, wenn sie Typenbeschreibungen als Diagnose verkaufen: hier wird Typisierung zum Schicksal! Anmerkungen: 1 Baer, (Psychiatrie für Juristen, 1988, S. 11ff) unterscheidet folgende drei Gruppen: - Psychosen, die durch körperliche Vorgänge verursacht werden - Psychosen, die nicht körperlich erklärbar sind, jedoch ebenso am Verlust der Ordnung des Erlebniszusammenhanges erkennbar sind. - Neurosen und Psychopathien. Die Nosologie Kraepelins teilte sich in nur zwei Gruppen endogener Psychosen: - manisch-depressiv (Kurt Schneider spricht hier von Zyklothymie, als Vorläufer der bipolaren Störung) - Dementia praecox (= vorzeitige Demenz) - K. Schneider sprach von Schizophrenie, heute erweitert zu "schizophrener Formenkreis" Die heutigen Manuale DSM und ICD enthalten demgegenüber hunderte von Unterabteilungen, die oft fälschlich mit Diagnosen verwechselt werden. 3 Der Angeklagte hatte geltend gemacht, daß er sich zeitweilig in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe (Hessischer VGH, Urteil vom 2.11.1988, 1 OE 31/83). 3a Fr.v. Rohden, Einf. i.d. kriminalbiologische Methodenlehre, 1933) 4 Analog hierzu findet man im Strafrecht die für den NS-Staat charakteristische Täter-Typen-Lehre, siehe hierzu Ingo Müllers Vortrag. Der Mühen der Psychiater um Typologisierung sind viele. So beschrieben Kraepelin und Tölle 7, Petrilowitsch 10, Lemke und Schneider 11 Typen. Besonders bedenklich werden solche Generalisierungen dann, wenn sie sozialepolitische/soziologische Wertungen darstellen, weil sie sich damit den staatlichen Entscheidungsträgern - insbesondere der Justiz - mittels "griffiger" Begriffe andienen. 5 Eckert, Was war die Kieler Schule? in: Säcker (Hg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, 1992, Seite 63. Einhergehend mit der Differenzierung zwischen Totschlag (= Konflikt- bzw. Affekttat) und Mord (Tat "mit Überlegung", § 211 StGB) ist für die NS-Rechtserneuerung die Umbildung des überkommenden Tatstrafrecht in Richtung eines Täterstrafrechts kennzeichnend. Zugleich vollzog sich ein Bedeutungszuwachs der (normativen) Tätertypenlehre. 6 Christian Bachhiesl, Zur Konstruktion der Kriminellen Persönlichkeit, 2005 7 Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie, 1910; Handschrift und Charakter, 1917 8 Philipp Lersch, Gesicht und Seele, 1932; Aufbau des Charakters, 1938 9 Kleist hat im Kohlhaas jedoch gerade keinen starren Typus beschrieben, sondern ein schicksalhaftes, unentwirrbares Interaktionsgeflecht, das bei der Berührung von Individuum und Gesellschaft entstehen kann, dargestellt. Die latente Gefahr des Mißbrauches - insbesondere seitens deutscher Psychiater - konnte Kleist sicherlich nicht vorhersehen, ganz abgesehen davon, daß der historische Hans Kohlhase lange vor der Epoche des verfaßten "Rechtsstaats" agierte, als ein Exponent des Konfliktlage zwischen korrupter Obrigkeit und dem gemeinen Volk, siehe nur bei Friedrichshainer Geschichtsverein Hans Kohlhase. 10 Beispiel: Lehnert, Sinn und Unsinn von Typologien, 2007 Literatur: - Hubert Tellenbach: Die Aporie der wahrhaften Querulanz: Das Verfallen an die Pflicht zur Durchsetzung des Rechts in H. v. Kleists «Michael Kohlhaas». In: Colloquia Germanica, Vol. 7 (1973), pp. 1-8 Beispielliteratur zur Typologisierung: - Carl Gustav Jung: Psychologische Typen, 1921 - Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter, 1921 - Kurt Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 1923 - Enrico Altavilla, Forensische Psychologie (Psicologia giudiziaria, 2 Bde. 1925 ff). 4 Aufl. 1955 - Kurt Schneider, Die abnormen seelischen Reaktionen, 1927 diese Reihe setzt sich nicht endend fort. bis hin zur den ICD und DSM-Manualen |