Auszug aus:
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Zeitschrift für materialistische Ethik
Herausgegeben vom
Verein zur Förderung des dialektischen Denkens
Erscheint in zwangloser Folge
Sommer 2005 Nr. 16
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Motto
Es gibt keine „unschuldige“ philosophische Stellungnahme. (Georg Lukács)
Impressum
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Wieder gelesen!
„Die Zerstörung der Vernunft“
Wider die Nietzsche Verherrlichung
Es gibt keine „unschuldige“ philosophische Stellungnahme. (S. 34)
Lukács, Georg:
Die Zerstörung der Vernunft. Georg Lukács Werke Band 9, Neuwied am Rhein, Berlin Spandau 1962.
(Zuerst erschienen 1953)
Das berühmt berüchtigte Buch von Lukács über den Irrationalismus ist wie kein anderes den
bundesdeutschen Intellektuellen auf die Nerven gegangen, weil es ihren Schwachpunkt getroffen hat.
Inzwischen ist die Denunziation dieses Klassikers gegen den Irrationalismus schon Lexikonwissen, man
lese nur das Stichwort „Irrationalismus“ im größten deutschsprachigen Philosophielexikon, dem
„Historischen Wörterbuch der Philosophie“. Dabei macht es Georg Lukács seinen Kritikern auch sehr
leicht, ihn zu denunzieren, etwa wenn er den Scharlatan Lyssenko lobt. Wenn aber jedes Buch, das Fehler
enthält Gegenstand einer Denunziation wird, dann dürfte man gar kein philosophisches Werk lesen.
Georg Lukács geht es um die geistigen Ursachen des Faschismus. Er erkennt sie in der Philosophie nach
Hegel. Je mehr sich die Arbeiterbewegung bemerkbar machte, um so mehr wird die bürgerliche
Philosophie zur Apologie des Kapitalismus, gibt die Vernunfteinsichten der klassischen Periode der
bürgerlichen Philosophie von Kant bis Hegel preis und wird immer irrationaler, so dass Hitler nur noch
an diesen Irrationalismus anzuknüpfen brauchte, um seine primitive Ideologie zu propagieren. Das
bürgerliche Denken hatte keine Widerstandkraft dagegen, weil es ihm vorgearbeitet hatte.
Kritik an Lukács Voraussetzungen
Ein solches Buch wider zu lesen erscheint antiquiert. Lukács Variante einer Philosophie
sowjetmarxistischer Provenienz ist heute völlig außerhalb des philosophischen Interesses, zumal die
Geltung der Hauptthesen dieser Philosophie mehr der staatlichen Macht sich verdanken als ihrer
rationalen Dignität. Vor allem drei Aspekte muss man bedenken, wenn man dennoch das Werk Gewinn
bringend rezipieren will: Die vorschnelle Identifizierung von Philosophemen mit den Positionen im
Klassenkampf, was auf der nicht haltbaren These von der Widerspiegelung der sozialen Realität im
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Denken beruht, und schließlich die Annahme eines objektiven Ganges des Fortschritts zum
Kommunismus. Selbstverständlich hat das Denken, wenn es wahr ist, ein Korrelat in der extramentalen
Sphäre. Wir haben Zugang zur Außenwelt über die sinnliche Erfahrung. Aber was wir aus den sinnlichen
Daten, die auch wieder nur einen kleinen Auszug des „Seienden“ liefern, machen, ist keine
Widerspiegelung der Außenwelt, sondern unsere Konstruktion durch den Verstand und die Vernunft, in
die auch unsere Interessen eingehen, die nicht, wenn man Klasseninteressen als Beispiel nimmt, einfach
vorgegeben sind. Zwar lassen sich vernunftbestimmte Interessen einer Klasse bestimmen, diese haben
aber eher den Rang von moralischen Appellen, wenn sie sich nicht mit den empirischen Interessen der
Mehrheit dieser Klasse decken. Letztlich kann so etwas nur behaupten, wer einen notwendigen Gang der
Weltgeschichte zum sozialen Fortschritt unterstellt, eine These, welche die Interessen der herrschenden
Bürokratie im sowjetischen Machtbereich legitimieren sollte. Dieses sowjetmarxistische Lehrstück ist nicht
nur empirisch durch den Zusammenbruch des Ostblocks widerlegt, sondern es war schon immer falsch.
Nicht umsonst spricht Marx von „Tendenzen“ des Kapitalismus und kritisiert die Vorstellung von
Geschichte, sie sei ein apartes Subjekt. Lukács bekennt sich wiederholt zu diesen drei Thesen, liest man
aber genauer, dann werden diese falschen Thesen doch immer wieder relativiert am zu behandelnden
Material. Manche Formulierungen scheinen bloße Zugeständnisse an die herrschende Partei in Ungarn zu
sein. (Vgl. auch die Kritik an Lukács in der Abhandlung über Lotze in diesen Erinnyen, 0.2.)
Grundgedanke
Berücksichtigt man diese teilweise schiefe Perspektive, kann sein Buch dennoch heute mit intellektuellem
Gewinn gelesen werden, weil sein Gegenstand immer noch aktuell ist. Lukács zeigt, wie die soziale
Demagogie des deutschen Faschismus und das irrationale Klima, das sie erzeugt, vorbereitet und geistig
ermöglicht wurde. Seine Hauptthese ist, dass nach Hegel das bürgerliche Denken die Arbeit an der
Zerstörung der Vernunft begonnen hat und immer mehr zum Irrationalismus abgeglitten ist, so dass die
Nazis schließlich ihre dilettantische Weltanschauung nur noch abzuschreiben brauchten, so z.B. bei der
Lebensphilosophie Nietzsches und Spenglers. „Hitler und Rosenberg tragen alles, was über irrationellen
Pessimismus von Nietzsche und Dilthey bis Heidegger und Jaspers auf den Lehrstühlen, in den
intellektuellen Salons und Cafés gesprochen wurde, auf die Straße.“ (S. 78) Im Gegensatz zu den
akademischen Vorurteil, Philosopheme seien bloß unschuldige Hypothese, geht Lukács zurecht davon
aus, dass ein
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Intellektueller Verantwortung trägt für seine Äußerungen. Mag ein Seminar der Ort sein, um neue
Gedanken auszuprobieren, sobald sie als eine Wahrheit veröffentlich werden, verselbstständigen sie sich,
werden zu Handlungsanleitungen und, wenn sie falsch sind, der Grund einer zerstörerischen Praxis.
Es ist nicht die Intention von Lukács, das Werk einzelner Denker, die hier und da einen Fortschritt der
Erkenntnis hervorgebracht haben, als Ganzes zu würdigen, sondern er polemisiert gegen ihre
Haupttendenz, die auf eine Zerstörung des rationalen Denkens und auf das Ersetzen der Vernunft durch
den Irrationalismus hinausläuft. (Zu seiner Definition des „Irrationalismus“ siehe auch die Arbeit über
Lotze in diesen Erinnyen, Kapitel „Irrationalismus“ 3.5.) Dieser macht blind der sozialen Wirklichkeit
gegenüber, der wir doch nicht als menschliche Körper entrinnen können, soweit wir auch in die
Nebelregionen des Denkens entfliehen. Diese Einseitigkeit der Konzentration auf die „Zerstörung der
Vernunft“ ist aber zugleich die Stärke dieses Werkes. Lukács macht an vielen Philosophemen den Bezug
zur gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit deutlich, ohne den philosophischen Gedanken im
soziologischen Material zu ertränken. Da die Haupttendenz der bürgerlichen Philosophie bis heute
fortdauert, bleibt Lukács Werk aktuell. Und es ist kein Wunder, wenn selbst gemäßigte Denker wie
Herbert Schnädelbach Lukács mehr denunzieren als kritisieren, denn im Begriff des Irrationalismus trifft
er das heutige bürgerliche Philosophieren bis hin zu Habermas.
Inhalt
Im ersten Kapital geht Lukács auf die Eigentümlichkeit der deutsche Geschichte ein, um zu analysieren,
warum in Deutschland „ein solches Zentrum der Vernunftfeindlichkeit“ entstanden ist, dass den
Faschismus geistig ermöglichte. Im zweiten Kapitel wird die Periode von 1789- 1848 behandelt: Dabei
geht er vor allem auf Schelling, Schopenhauer und Kierkegaard ein. Das dritte Kapitel beschäftigt sich
ausschließlich mit Nietzsche. Im vierten Kapitel wird „Die Lebensphilosophie im imperialistischen
Deutschland“ behandelt, hier kritisiert er Philosophen wie Dilthey, Simmel, Spengler, Scheler, Heidegger,
Jaspers und die präfaschistische und faschistische Lebensphilosophie. In den weiteren Kapiteln geht er auf
den Neuhegelianismus, die deutsche Soziologie und den Sozialdarwinismus und letztlich auf die Ideologie
des Faschismus selbst ein. Ein Nachwort zur zweiten Auflage behandelt die Nachkriegszeit, vor allem
amerikanische Ideologen, dieser Teil scheint mir der niveauloseste zu sein, weil Lukács hier am engsten
der Parteidoktrin unterworfen ist.
Lukács Nietzsche-Kritik
In dieser Rezension werden wir nur auf Lukács Kritik an Nietzsche näher eingehen, weil dieser Denker
heute zum Modephilosoph avanciert ist, was mehr über den Zustand des Denkens als über Nietzsche
aussagt. Nach 1945 setzt bei den meisten bürgerlichen Philosophen eine Nietzsche-Apologie ein, die ihn
von allen Vorwegnahmen der Nazi-Ideologie reinigte und jede kritische Distanz zu seiner Verherrlichung
von Herrschaft und Brutalität vermissen lässt. Ein Vorgang, den Lukács in seinem Nachwort von 1962
bereits kritisiert. Diese Tendenz hat sich zu einem Boom entwickelt und hält bis heute an. Selbst die
Rezeption sich links gebender Philosophen, die scheinbar der kritischen Theorie nahe stehen, will von
Nietzsche die Kritik der Moralphilosophie lernen, indem sie Lukács Schrift bestenfalls in der
Vorbemerkung aus dem Inhaltverzeichnis mit einem Schlagwort denunziert, ohne auf die Argumentation
von Lukács einzugehen. (So Gerhard Schweppenhäuser: Nietzsche Überwindung der Moral, Würzburg
1988, S. 9) Was sie Lukács vorwerden, dass er nicht in die Stärken der jeweiligen Denker eingeht, sondern
ihre Fehler scharf kritisiert, machen sie umgekehrt mit Lukács, wenn sie denn nicht dem
antikommunistischen Klischee verfallen, gar nicht zu kritisieren, sondern nur zu denunzieren.
Wir dagegen behaupten, man kann heute Nietzsche nicht rational rezipieren, ohne die Kritik von
Lukács zur Kenntnis zu nehmen. Erst wenn man mit Lukács Nietzsches Irrationalismus und seine
Herrschaftsunmittelbarkeit kritisiert hat, ist es möglich, kulturkritische und moralkritische Einsichten, die
seine Philosophie auch enthält, rational überhaupt zu verstehen, ohne zugleich auf sein „Genie“ usw.
abzufahren.
Indirekte Apologetik
Lukács unterscheidet zwischen direkter und indirekter Apologetik des Kapitalismus. Eine direkte
Apologetik des Kapitalismus ist in Europa kaum möglich gewesen, weil es starke Arbeiterbewegungen gab
und die Menschen solch eine primitive und zynische Rechtfertigung der Ausbeutung nicht akzeptiert
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hätten. Deshalb ist hier die indirekte Apologetik vorherrschend, die z.B. durch anthropologische
Konstanten oder Bildungsbezüge die Herrschaft des Kapitals rechtfertigt. Zur indirekten Apologetik
gehört nach Lukács auch die Philosophie Nietzsches. „Der ‚soziale Auftrag’, den Nietzsches Philosophie
erfüllt, besteht darin, diesen Typus der bürgerlichen Intelligenz (der zwischen den Klasseninteressen
schwankt, B.G.) zu ‚retten’, zu ‚erlösen’, ihm einen Weg zu weisen, der jeden Bruch, ja jede ernsthafte
Spannung mit der Bourgeoisie überflüssig macht; einen Weg, auf dem das angenehme moralische Gefühl,
ein Rebell zu sein, weiter bestehen bleiben kann, sogar vertieft wird, indem der ‚oberflächlichen’,
‚äußerlichen’ sozialen Revolution eine ‚gründlichere’, ‚kosmisch-biologische’ lockend gegenübergestellt
wird. Und zwar eine ‚Revolution’, die die Privilegien der Bourgeoisie vollständig bewahrt, die vor allem
das Privilegiertsein der bürgerlichen, der parasitären imperialistischen Intelligenz leidenschaftlich
verteidigt; eine ‚Revolution’, die sich gegen die Massen richtet, die der Furcht der ökonomisch und
kulturell Privilegierten, diese ihre Vorrechte zu verlieren, eine pathetisch-aggressiven, die egoistische
Furcht verschleiernden Ausdruck verleiht.“ „Jedoch gerade diese Verknüpfung von brutal ordinärem
Antisozialismus mit einer raffinierten, geistreiche, zuweilen sogar richtigen Kultur- und Kunstkritik (man
denke an die Kritik Wagners, des Naturalismus usw.) macht seine Inhalte und Darstellungsweisen so
verführerisch für die imperialistische Intelligenz.“ (S. 277)
Herrschaftsphilosophie
Wie die indirekte Apologetik zur Rechtfertigung von Herrschaft aussieht, macht Lukács an eindruckvollen
Zitaten deutlich:
1871, unmittelbar nach dem Sturz der Pariser Kommune schreibt Nietzsche: „Wir dürfen wieder hoffen!
Unsere deutsche Mission ist noch nicht vorbei! ich bin mutiger als je: denn noch nicht alles ist unter
französisch-jüdischer Verflachung und ‚Eleganz’ und unter dem gierigen Trieben der ‚Jetztzeit’ zugrunde
gegangen. Es gibt doch noch Tapferkeit, und zwar deutsche Tapferkeit, die etwas innerlich anderes ist als
der élan unserer bedauernswerten Nachbarn. Über den Kampf der Nationen hinaus hat uns jener
internationale Hydrakopf erschreckt, der plötzlich so furchtbar zum Vorschein kam, als Anzeiger ganz
anderer Zukunftskämpfe.“
1873: „Mein Ausgangspunkt ist der preußische Soldat: hier ist eine wirkliche Convention, hier ist Zwang,
Ernst und Disciplin, auch in Betreff der Form.“ (S. 284)
1873: „Die allgemeinste Bildung, d.h. die Barbarei ist eben die Voraussetzung des Communismus ... Die
allgemeine Bildung geht in Haß gegen die wahre Bildung über ... Keine Bedürfnisse haben ist für das Volk
das größte Unglück, erklärte einmal Lassalle. Daher die Arbeiterbildungsvereine: als deren Tendenz mir
mehrfach bezeichnet worden ist, Bedürfnisse zu erzeugen ... Also der Trieb nach möglichster
Verallgemeinerung der Bildung hat seine Quelle in einer völligen Verweltlichung, in einer Unterordnung
der Bildung als eines Mittels unter den Erwerb, unter das roh verstandene Erdenglück.“ (S. 285)
Anfang der 1870er Jahre: „Und wenn es wahr sein sollte, daß die Griechen an ihrem Sklaventum
zugrunde gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventums
zugrunde gehen werden.“ (S. 286)
Zweite Hälfte der 1870 Jahre: „Eine höhere Kultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene
Kasten der Gesellschaft gibt: die der Arbeitenden und die der Müßigen, zu wahrer Muße Befähigten; oder,
mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit.“ (S. 292)
1878: DasVolk ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigentumserwerb, am
entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen
Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und
Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat langsam einen Mittelstand schaffen, der den
Sozialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf.“ (S. 293)
1887: „Fügen wir uns in die Tatsachen: das Volk hat gesiegt – oder ‚die Sklaven’ oder ‚der Pöbel’ oder ‚die
Herde’ oder wie sie es zu nennen belieben ...’Die Herren’ sind abgetan; die Moral des gemeinen Mannes
hat gesiegt ... Die ‚Erlösung’ des Menschengeschlechts (nämlich von den ‚Herren’) ist auf dem besten
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Wege; alles verjüdelt oder verchristelt oder verpöbelt sich zusehens (was liegt an Worten!). Der Gang
dieser Vergiftung durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltbar...“ (S. 294)
1887: „Das Problem – wohin? Es bedarf eines neuen Terrorismus.“
1888: „Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die
Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters untergraben, -
die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren ... Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt
im Anspruch auf ‚gleiche’ Rechte...“
1888: „Die Dummheit, im Grund die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache aller Dummheiten ist,
liegt darin, daß es eine Arbeiterfrage gibt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des
Instinkts. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem
man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu
fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen
vorüber, daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande
herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. ... man hat
den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht
gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch
ausgedrückt als Unrecht -) empfindet? aber was will man? Nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß
man auch die Mittel wollen. Will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht.-“ (S.
295)
80er Jahre (Wille zur Macht): Über die „Herren der Erde“: „Offenbar werden sie erst nach ungeheuren
sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren.“ (S. 296)
Die Philosophie von Nietzsche ist aphoristisch, jeder kann sich aus dieser herausholen, was in seine
Ideologie passt. Dennoch hat dieses widersprüchliche Denken nach Lukács einen systematischen
Bezugspunkt, der sich trotz seiner „politischen Naivität“ und „ökonomischen Unwissenheit“ (S. 292)
durch sein gesamtes Werk durchhält: Dies ist der Kampf gegen den Sozialismus. Die Zitate aus den
verschiedenen Perioden seines Werkes belegen diesen Gedanken eindrücklich.
Selbst die erkenntnistheoretische Position Nietzsches, die Lukács als subjektiven Idealismus und
Agnostizismus charakterisiert, hat einen Bezug zu seinem Antisozialismus. Lukács schreibt dazu: „Letzten
Endes erstrebt eine jede ‚Immanenz’ der bürgerlichen Philosophie des Imperialismus dieses Ziel: aus der
Erkenntnistheorie die ‚Ewigkeit’ der kapitalistischen Gesellschaft abzuleiten. Nietzsches besondere
Bedeutung liegt darin, daß er diesen gemeinsamen Gedanken der imperialistischen Philosophie in
suggestiven Paradoxen offen ausspricht und damit auch in der Erkenntnistheorie der führende Ideologe
der militanten Reaktion wird.“ (S. 341)
Die heute vorherrschende Meinung unter den bürgerlichen Philosophen, dass es keine gesicherten
Wahrheiten gibt, ja dass der Begriff der Wahrheit selbst obsolet wäre, trotz aller Erfolge z.B. der
naturwissenschaftlichen Theorien, die jeder sehen kann, findet in Nietzsche einen wirkmächtigen
Propagandisten. Das erklärt vielleicht auch die schon in seinen letzten Lebensjahren einsetzende und bis
heute anhaltende Faszination auf die opportunistische Intelligenz. Obwohl es Nietzsche in vielen
Bereichen der Wissenschaft an Sachkenntnis fehlt, besonders bei gesellschaftlichen und ökonomischen
Themen, wirkt er durch seine brillante Schreibweise und sein philologisches Genie. Aber selbst dort, wo er
radikal zu kritisieren scheint, etwa in seiner These: „Gott ist tot“, propagiert er inkonsequent wieder eine
neue Religion: „Die Widerlegung Gottes: - eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt.“ (S. 317)
Seine Religionskritik ist nur die Verkündung eines neuen Mythos. Sein „religiöser Atheismus“ hat „die
Funktion, das religiöse Bedürfnis jener Schichten, die mit den positiven Religionen gebrochen haben, zu
befriedigen, und zwar in Form einer eventuell sehr scharfen Polemik gegen diese, womit der Schein einer
‚unabhängigen’, ‚nonkonformistischen’, ja ‚revolutionären’ Attitüde bei seinen Anhängern begründet wird;
er muß aber gleichzeitig die für den Bestand der kapitalistischen Gesellschaft wichtige Religiosität
überhaupt bewahren. Der ‚religiöse Atheismus’ ist also ebenfalls eine Erscheinungsform der indirekten
Apologetik.“ (S. 316) Letzteres macht die durchgehende Linie seiner Schriften, bei allem Wechsel seiner
Auffassungen und bei allen widersprüchlichen Äußerungen, aus.








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Peter von Oertzen:
Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft.
Hrsg. von Michael Buckmiller, Gregor Kritidis und Michael Vester, Hannover 2004
(Offizin-Verlag).
Wenn jemand 80 Jahre alt ist, dann wird es Zeit die Lebensbilanz zu ziehen. Wie kann man das besser bei
einem Politiker und Theoretiker als seine gesammelten Aufsätze zu veröffentlichen. Peter von Oertzen ist
Politiker und Professor für politische Wissenschaft, vor und nach seinen politischen Ämtern (SPD) war er
an der Technischen Hochschule Hannover und jetzigen Universität als Hochschullehrer tätig. Als der
Rezensent 1973 anfangen wollte in Hannover zu studieren, musste er vom Kultusministerium eine
Bestätigung seines Abiturzeugnisses haben. Noch naiv und jung in der BRD ging ich zum Pförtner des
Ministeriums und wollte den „Kulturminister“ Oertzen sprechen, da sich die Bescheinigung verzögerte
und der Einschreibtermin heranrückte. Selbstverständlich wurde ich nicht vorgelassen, immerhin lief ein
Beamter mit mir durch die Büros, um meine Akte zu suchen. Eine Woche später hatte ich rechtzeitig
meine Bestätigung. Was aber wichtiger war, ich lernte, dass diese Institution „Kultusministerium“ hieß.
Unter Kultus hatte ich mir bis dahin immer tanzende Indianer um ein Lagerfeuer vorgestellt, hier tanzte
nur ein Beamter, der anscheinend nervös war, durch die Büros. Ich weiß nicht, ob der Ästhet Oertzen
auch Anstoß an dem Wort Kultus nahm, aber diese Tätigkeit kennzeichnet sein Leben. Er wollte nicht nur
Politiktheorie betreiben, sondern auch praktisch wirken, selbst wenn er dabei Kompromisse eingehen
musste.
Oertzen vertrat linkssozialistische Positionen bis vor kurzen in der SPD, die er aber inzwischen verlassen
hat. Wirtschaftlich strebt er an, die Marktmacht von Großunternehmen zu beschränken, die
„Herrschaftsmacht des Kapitals über Menschen“ (S. 403) durch Mitbestimmung und letztlich
Selbstbestimmung zu brechen und z.B. durch Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen eine
das kapitalistische System transzendierende Reformpolitik einzuleiten. Politisch tritt er teilweise für die
Rätedemokratie ein, indem er z.B. nachweist, dass diese Form der Demokratie mit dem Grundgesetz
vereinbar ist (384 ff.). In anderen Äußerungen zweifelt er das Funktionieren des Rätegedankens in einer
komplexen Industriegesellschaft an. Dieser Widerspruch kann aber auch eine Veränderung seiner Position
in der Zeit geschuldet sein. Unabdingbar für eine sozialistische Gesellschaft sind ihm gesicherte
Menschen- und Bürgerrechte. „Ohne Demokratie, Rechtsstaat und gesellschaftlicher Pluralismus kann es
prinzipiell kein Sozialismus geben.“ (S. 421)
Das Buch Oertzens ist in drei Kapitel eingeteilt, in denen die Aufsätze aus den Jahren 1959 bis 1994
jeweils chronologisch geordnet sind. Im Kapitel: I. Theorie, geht es u.a. um das Selbstverständnis der
Politikwissenschaft. Dabei erweist sich Peter von Oertzen als einer der wenigen Sozialwissenschaftler, der
auf den Boden des „Marxismus“ steht, jedenfalls so wie er ihn versteht. Er sieht die Sozialwissenschaften
nicht als bloße Theorie an, sondern immer auch auf die politische Praxis bezogen. Politik ist ihm das
Handeln der „historisch-sozialen Subjekte“, die als „organisierter Willensverband“ agieren und deren
Wesen in der „kollektiven Entscheidungs- und Aktionsfähigkeit“ liegt. „Politik ist nichts anderes als das
bewußt gewordene Kollektiv“, sagt er mit Burdeau. „Politik ist also jenes planmäßige, organisierte,
sinnorientierte soziale Handeln, das beharrlich auf die Schaffung, Erhaltung oder Veränderung der
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gesellschaftlichen Ordnung hinwirkt. Dabei steht dieses Handeln wesensmäßig unter den historischsozialen
Bedingungen, die durch die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, des modernen
Flächenstaates und der industriellen Wirtschaft geschaffen worden sind. Die diesem Begriff der Politik
entsprechende Wissenschaft ist selbst ein Moment des gesellschaftlich-geschichtlichen Ganzen, aus dem
die so verstandene Politik entspringt. Sie ist Voraussetzung und Bestandteil jenes gesellschaftlichen
Handelns, das wir Politik nennen; sie kann nur als eine ‚praktische Wissenschaft’ begriffen werden.“ (S. 26
f.)
Auffällig an diesen frühen Theorieaufsätzen ist der unbefangene Umgang mit den bürgerlichen Vertretern
dieses Faches, den Oertzen auch während der Studentenrevolte, die einen aggressiveren Umgang mit den
theoretischen Gegner mit sich brachte, konsequent beibehielt. Allerdings führt das bei ihm auch zu
Ungenauigkeiten wie z.B. einen üblichen aber auch laxen Sprachgebrauch: Häufung von Doppelbegriffen
wie „politisch-sozialen“, absurde Begriffe wie „im strengen Sinn des Begriffs ‚ganzheitliche
Betrachtungsweise’“, „Strukturbilder“, nichts sagende Ausdrücke wie „weniger als je zuvor“; Übernahme
von ideologische Formen wie z.B. den Wertbegriff usw. Gerade die Übernahme des moralischen
Wertbegriffs ist nur aus seiner Kompromisshaltung und dem Umfeld der Aufsätze zu erklären, da Oertzen
die Kritik daran durch den Positivismusstreit (Adorno gegen Albert und Popper) kannte. Allgemein ist das
Niveau der Aufsätze naturgemäß unterschiedlich, da es von wissenschaftlichen „Überlegungen“ bis zu
populären Artikeln reicht. Ärgerlich dabei ist, dass sich in den Aufsätzen über Marx teilweise ganze
Passagen wörtlich wiederholen, hier hätten die Herausgeber kürzen müssen.
Das Besondere seiner Marxrezeption liegt in der Deutung des Begriffs Arbeiterklasse. Reale historische
Subjekte, die wirklich kollektiv handeln, könnten nicht einfach aus der unmittelbaren gesellschaftlichen
Struktur abgeleitet werden. So sei schon durch die sozialen Verschiebungen die traditionelle
Industriearbeiterschaft als revolutionäres Subjekt nicht ausreichend. Nicht nur dass sie inzwischen eine
Minderheit ist, sondern eine komplexe Industriegesellschaft kann nicht ohne die verändert werden, die
auch in der Marxschen Theorie bestimmt werden: den gesellschaftlichen Gesamtarbeiter. So kritisiert er
Lenins Antwort auf die Fragestellung in „Was tun?“, nämlich dass die Arbeiterklasse von sich aus nur zu
einem gewerkschaftlichen Bewusstsein in der kapitalistischen Gesellschaft kommen könnte, als
Scheinproblem. „Denn wenn die produktive technische und wissenschaftliche Intelligenz von vornherein
ein Bestandteil des revolutionären Subjekts, nämlich des ‚gesellschaftlichen Gesamtarbeiters’ ist, dann
bedeutet die Vermittlung intellektuell erarbeiteter Einsichten unter werktätigen Arbeitern und
Angestellten, bedeutet der ganze historische Prozeß der Bildung und Organisierung unter den
Lohnabhängigen nicht eine Einwirkung ‚von außen’, sondern nicht mehr – aber auch nicht weniger – als
die Herstellung einer sinnvollen Kooperation zwischen den verschiedenen Schichten, Gruppen und
Funktionsträgern innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters’.“ (S. 149 f.) Dass die leitenden,
organisierenden und technisch bestimmenden Gruppen des Gesamtarbeiters nicht eher zum Faschismus
oder doch zu den Konservativen neigen wie 1933, versucht Oertzen bei seiner Analyse des grünen
Wählerpotenzials zu zeigen.
Auch ein Abstecher in die Philosophie kommt vor: „Kants ‚Über den Gemeinspruch und das Verhältnis
von Theorie und Praxis in der Politik“, d.h. über den Spruch, In der Theorie mag etwas ja richtig sein, in
der Praxis aber taugt es nichts. Insofern Kant die Korrektur der Vernunftmoral durch widerstreitende
Erfahrung kritisiert, stimmt Oertzen ihm zu. In der Anwendung „reiner Vernunfterkenntnis“ auf die
jeweilige wirtschaftliche, politische und kulturelle Situation sieht er aber ein Manko bei Kant. Oertzen ist
kein intimer Kant-Kenner, sonst würde er den üblichen Fehler bei der Kantrezeption nicht wiederholen:
Es „ist das Prinzip, obwohl an sich richtig, dennoch falsch“ (S. 44), weil nicht mit der sozialen Realität
vermittelt. „Wir haben hier also – so scheint es – tatsächlich einen Fall, wo unser Gemeinspruch zutrifft:
Es gibt theoretische Einsichten, die – obwohl an sich richtig – für die Praxis nicht taugen oder mindestens
nicht zu taugen brauchen.“ (S. 45) Kant selbst leistet in manchen Formulierungen dieser Missdeutung
Vorschub. Ist man aber an der Sache interessiert, dann kann man herausfinden, dass es Kant in der
Moralphilosophie um eine „reine“ Begründung des Moralgesetzes geht, weil jede empirische Begründung
immer Interesse geleitet ist, d.h. partikular, in den historische und politischen Schriften aber erscheint
Moralität als Zielvorstellung, nicht als abstraktes Moralisieren, wie Oertzen suggeriert. Entgegen der
Meinung von Oertzen kommt die „Konkretisierung durch die Erkenntnis derjenigen sozialen
Wirklichkeit, auf die sie angewandt werden soll“ (S. 45) bei Kant also durchaus vor, etwa in seinen
geschichtsphilosophischen Schriften, was immer man im Einzelnen (wie bei Oertzen auch) daran
kritisieren kann. Wenn Oertzen z.B. die „Herrschaftsmacht des Kapitals über die Menschen“ (S. 403)
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durch strukturelle Reformen abschaffen will, dann legt er das „reine“ Moralgesetz (Menschen als Zweck
an sich) zu Grunde, auch wenn er es nicht weiß und Kant diese Konsequenz noch nicht gezogen hat oder
noch nicht ziehen konnte.
In der II. Abteilung „Arbeiterbewegung“ geht es vor allem um die Frage der Mitbestimmung heute und in
der Zeit nach 1918. Dies ist wohl das bekannteste Theoriestück des Autors, vor allem bekannt geworden
durch sein Buch: „Betriebsräte in der Novemberrevolution“, Düsseldorf 1963. Der interessierte Leser
kann die ergänzenden Texte zu diesem Thema in diesem hier rezensierten Sammelband nachlesen.
Diese Abteilung enthält aber auch den Beitrag von Peter von Oertzen zur Sozialstruktur des grünen
Wählerpotenzials. Oertzen versucht dort (1985) auch mit statistischen Mitteln nachzuweisen, dass die
„neuen sozialen Bewegungen“ ihr Wählerpotenzial aus allen Schichten der Lohnabhängigen bekommen,
nicht nur aus – pauschal ausgedrückt – verkrachten Studenten, wie einige bürgerliche Untersuchungen
zeigen wollen. „Wichtige Teile der alternativen sozialen Bewegungen entstammen dem Bildungs- und
Reformmittelstand, der vor allem durch Umschichtungen seit den 1960er Jahren an Bedeutung gewonnen
hat. Der Anteil an Schul- und Hochschulausbildung und überhaupt an nichtkörperlicher
Arbeitsqualifikation hat erheblich zugenommen, ebenso der technischen und intellektuellen
Berufsgruppen, die mit programmierenden, überwachenden, sozial steuernden und Dienst leistenden
Funktionen von Wirtschaft und Staat angewachsen sind.“ (S. 372) Auf einer „neuen heterogenen
Bündnisbewegung“ (S. 373) beruht die Hoffnung von Oertzens mit seinen Kollegen Vesper. Bringt man
diese (noch unabgeschlossenen) Untersuchungen zur Sozialstruktur mit Oertzens Begriff des
„gesellschaftlichen Gesamtarbeiters“ (S. 234) zusammen, dann zeichnet sich für ihn ein Subjekt ab für
seine systemüberwindenden Reformen.
Die III. Abteilung hat als Überschrift „Politik“ und man könnte meinen, bei solch einem auf die politische
Praxis angelegten Gedankengebäude müsste dieser Teil den größten Platz in dem Buch einnehmen,
tatsächlich ist er aber der kürzeste. In dem Text „Der Rechtsstaat und die Rechte“ spricht sich Oertzen
gegen ein NPD-Verbot aus, weil „politische Unvernunft“ noch kein Verbotsgrund sei und mit jedem
Parteiverbot auch die politischen Freiheitsspielräume eingeengt würden. Gegen den Vorwurf, diese
Ansicht sei „unpolitischer Formalismus“ wendet er ein, dass eine „anständige, überzeugende und
erfolgreiche Politik“ (S. 378) das beste Mittel gegen extreme Parteien wäre. Entsprechend kritisiert er
Gesetzesbrüche im Kampf gegen die NPD mit Hinweis auf die Untergrabung der Rechtsordnung in der
Weimarer Republik.
Ähnlich argumentiert er 1969 gegen andere Rechtsbrüche von links: „Wenn wir unterstellen, daß die
Wissenschaft unter der Alleinherrschaft der Ordinarien tatsächlich zur Apologetik der kapitalistischen
Gesellschaft mißbraucht wird, wer sichert, daß sie unter der Alleinherrschaft der Studenten – und darauf
laufen die Konzeptionen des radikalen Flügels der Studentenbewegung hinaus – nicht zur revolutionären
Parteipropaganda entarten würde?“ (S. 382) Die Verteidigung des Legalitätsprinzips in der Demokratie
muss dann auch für seine Umwandlung der Gesellschaft zum demokratischen Sozialismus gelten. Peter
von Oertzen zeigt, dass eine direkte Demokratie mit der „Freiheitlich demokratischen Grundordnung“
vereinbar ist, wenn man den Rätegedanken richtig versteht. Oertzens Konzept einer „evolutionären
Revolution“ (S. 129) muss das aktive Handeln der Akteure betonen. Dieses trifft auf gegnerisches
Handeln als seine Bedingung. Heraus kommt - und da folgt Oertzen seinem theoretischen Gewährsmann
Friedrich Engels -, eine Resultante, ein Gesamtdurchschnitt, an den alle mit beteiligt sind, den aber unter
den entfremdeten Verhältnissen der Kapitalproduktion niemand gewollt hat, jedenfalls solange diese
Ordnung besteht. Hätten die Reformer die klare Mehrheit, so scheint es bei Oertzen, dann würde die
Resultante in Richtung auf den demokratischen Sozialismus weisen. Doch dieses Bild von Engels existiert
wie jede Veranschaulichung von Vereinfachungen. Es hat nur einen Sinn, wenn man im Chaos des
Interessenkampfes unterstellt, dass die Resultante durch die Gesetze der Kapitalproduktion
hervorgebracht wird. Diese Gesetze können aber in dem Buch mehr oder weniger nur unter den Begriff
„Entfremdung“ vor. Erst in einer neueren Schrift, in der er das PDS-Programm kritisiert, spricht Oertzen
von dem entscheidenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise: „Deren Kern liegt nicht in
bestimmten einzelnen Elementen (z.B. Profit, Privateigentum, Kapitalmacht u.ä.), sondern im
Gesamtprozeß der Akkumulation und Verwertung des Kapitals. Dieser vollzieht sich im
Konkurrenzkampf der Einzelkapitale und ist Gesetzen unterworfen, die sich anonym hinter dem Rücken
der Menschen und über ihre Köpfe hinweg durchsetzen – auch über die Köpfe der Kapitalisten und der
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kapitalistischen Unternehmen hinweg. Die sog. ‚Profitmaximierung’ ist nicht eine Einstellung, die das
einzelne Unternehmen auch sein lassen könnte. Wer in der Konkurrenz nicht nach dem höchstmöglichen
Profit strebt, kommt unter den Schlitten.“ (linksnet.de vom 1.7.2001)
Ist dem aber so, dann erscheint eine „evolutionäre Revolution“ illusorisch. Sozialismus ist für Oertzen die
Ausweitung der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung der Arbeitenden in den Betrieben, „Sozialisierung
ist mit Demokratisierung identisch“. Zugleich will er aber den Markt nicht durch eine Planwirtschaft
ersetzen, sondern bestenfalls durch einen Rahmenplan, der an den Bedürfnissen der Menschen orientiert
ist, nicht aber an der sinnlosen Selbstverwertung des Kapitals. „Die historische Erfahrung hat uns in der
Tat gelehrt, daß in weiten Bereichen der Ökonomie unter den Bedingungen einer komplizierten
arbeitsteiligen modernen Industriewirtschaft der Preis- und Qualitätswettbewerb selbständiger
Unternehmungen auf dem Markt ein konkurrenzlos sparsames, effizientes, elastisches und
bedürfnisgerechtes ökonomisches System der Produktion und Verteilung ist. Aber wäre dieses System
nicht auch mit anderen als mit kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und Rahmenbedingungen
vereinbar?“ (S. 435) Nein. Zwar sind andere Eigentumsverhältnisse denkbar, evtl. auch ein
Staatskapitalismus, aber eine sozialistische Marktwirtschaft ist eine contradictio in adjecto. Sie wäre genauso
den natürwüchsigen Kapitalgesetzen ausgeliefert wie jetzt die kapitalistische Gesellschaft, eine soziale
Angleichung der Lebensverhältnisse wäre unter den Konkurrenzmechanismen einer solchen
Marktgesellschaft nicht möglich, ganz abgesehen von den Bedingungen des Weltmarktes, an dem schon
die am Markt agierende Planwirtschaft des Sowjetblocks gescheitert ist. Wenn man nicht in die einfache
Marktwirtschaft des Mittelalters zurückwill, dann heißt Markt immer auch Wertgesetz, Produktion von
akkumulierbaren Mehrwert, von periodischen Krisen. Selbst wenn die Betriebe alle in der Hand des
Gesamtarbeiters wären, müssten sie den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise, die hinter ihren
Rücken wirken, gehorchen. Es wäre nichts Entscheidendes gewonnen. „Die vieldiskutierte
Eigentumsfrage löst das Problem ebenfalls nicht.“ (Oertzen in: linksnet, a.a.O.)
„Was bleibt von der sozialistischen Vision?“ heißt sein letzter Text in dem Buch. Oertzen sagt mit Rosa
Luxemburg ohne sozialdemokratische Illusionen: „’Sozialismus oder Untergang in der Barbarei’. Diese
Vision ist so aktuell wie vor 70 Jahren.“ (S. 437) Da wir bereits zweimal im 20. Jahrhundert die Barbarei
hatten und angesichts der Destruktivkräfte wie der ABC-Waffen und der imperialistischen Aggressivität
des Kapitalismus, müsste es präziser heißen: „Sozialismus oder Auslöschung der Spezies Mensch“.
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Glossar
Ideologie
Ideologie ist im Anschluss an Karl Marx notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung.
Ein klassisches Beispiel ist das als anthropologisch behauptete religiöse Bedürfnis, obwohl die Religion
bereits 600 Jahre theoretisch tot ist. Dabei ist Religion, selbst wenn sie sich rebellisch gibt, immer
Herrschaft sichernd. Religion (wie jede Ideologie) ist Bewusstsein, d.h. nicht einfach Lüge, denn sie
enthält durchaus partielle Erkenntnisse, die allerdings schief gedeutet werden. Die Religion und das
Bedürfnis nach ihr ist notwendig, nicht erkenntnistheoretisch oder anthropologisch, sondern
soziologisch, weil Ökonomie, Staat, Sozietät und Kirche „eine verkehrte Welt sind“, so dass die Menschen
nach einem allgemeinen „Trost- und Rechtfertigungsgrund“ verlangen. „Die Religion ist der Seufzer der
bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist
Opium des Volks.“ (Marx: MEW 1, S. 378) Das vernünftige Bewusstsein hat diesen Zusammenhang
zwischen Ideologie und sozialer Wirklichkeit aufzuklären und nicht nur die Ideologie zu kritisieren,
sondern auch eine soziale Wirklichkeit, die solche Ideologien zu ihrer Rechtfertigung und Verschleierung
benötigt. In dieser Form hat es Ideologie, wenn auch nicht unter diesem Namen, gegeben, seit es
Herrschaft gibt. Die kapitalistische Produktionsweise bringt aber einen Typus von Ideologie hervor, der
nicht einfach zur Rechtfertigung der Herrschaft von irgendwelchen Denkern erfunden oder aus der
Tradition übernommen wird, sondern aus dieser Ökonomie selbst erwächst. Der Wert der Ware
Arbeitskraft z.B. erscheint als Menge von Lebensmitteln, die sie benötigt. Tatsächlich aber erzeugt die
Arbeitskraft in ihrer produktiven Anwendung mehr Wert als sie dem Wertgesetz entsprechend kostet.
Unter dem Schein des Äquivalententausches wird den Lohnabhängigen ein Nichtäquivalent
abgenommen. Die Ideologie vom „gerechten Lohn“, den der Lohnabhängige angeblich bekomme,
oder die Ideologie, dass es keine Ausbeutung mehr gäbe, wenn der Arbeitende ausreichend Lebensmittel
kaufen kann, beruht auf diesem Schein des Äquivalententausches. Ideologien dieser Art sind nur durch die
exakte theoretische Analyse erkennbar.
Irrationalismus
Über das, was weder unseren Sinnen noch unserem Denken zugänglich ist, kann man keine bestimmten
Aussagen machen. Macht man dennoch darüber Aussagen, überschreitet man die Grenze unseres
Erkenntnisvermögens und wird irrational. Allerdings ist nicht jeder falsche Gedanke oder jede falsche
Philosophie irrational, denn das Falsche trägt notwendig zur Wahrheitsfindung bei (Hegel). Durch die
Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt gelang es dem Menschen, sich im
Bewusstsein von dem Naturzusammenhang, dem er als Körper verhaftet ist, zu lösen, und dadurch die
Natur partiell zu beherrschen. Überlässt sich das Bewusstsein aber der chaotischen Mannigfaltigkeit seines
Bewusstseinsstromes (wie z.B. Gefühlen, Ahnungen, Intuitionen, wilden Fantasien) oder bleibt es bei
der Welterkenntnis auf der Stufe des Verstandes stehen, kommt also nicht zur Vernunfterkenntnissen,
dann erscheint es selbst als beliebige Vielfalt, es wäre in sich widersprüchlich und könnte keine
reproduzierbaren Zusammenhänge erkennen. Das Irrationale ist ein blindes Schicksal für die
Menschheit – und die Aufgabe der Einzelwissenschaften und der Philosophie ist es, dieses zunächst
Irrationale mittels der Vernunft zu erfassen, damit es uns nicht als unbeherrschbares Schicksal widerfährt.
Die Regelung der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens bewegt sich aber unter den
Bedingungen einer irrationalen Produktionsweise: die Anarchie der kapitalistischen Marktwirtschaft
und das automatische Subjekt Kapital. Während die Naturwissenschaften rational gelehrt werden,
stehen Prämien auf der Verschleierung ihrer sozialen Funktion wie überhaupt auf der Irratio von
sozialen Theorien. Dem Zwang, dem sich die Arbeitenden auf der Seite der Naturbeherrschung
unterwerfen müssen, korrespondiert eine Entlastung in der Freizeit durch die Kulturindustrie. Deren
Beliebigkeit nutzen die Ideologen aus, sie propagieren irrationale Vorstellungen zur Blendung der
Bewusstseine.






Publikationen
des Vereins zur Förderung des dialektischen Denkens
(www.vereindialektik.de / www.schuledialektik.de)
- - - - - - -
Zeitschrift
Erinnyen Zeitschrift für materialistische Ethik
Seit 1985. Die Zeitschrift erscheint in zwangloser Folge
ISSN 0179-163X Exemplar z.Z. für Nr. 16 4,- €
www.zserinnyen.de / www.erinnyen.de / www.magazine-erinnyen.info
- - - - - - -
Wissenschaftliche Werke
Bodo Gaßmann: Ethik des Widerstandes
Abriß einer materialistischen Moralphilosophie
Zugleich Erinnyen Nr. 10 – 14
Garbsen 2001. ISBN3-929245-04-3. (240 S.; Paperback, A 5; 15,- €.)
- - - - - - -
Lehrbücher von Bodo Gaßmann
(www.bodo-gassmann.de)
Was heißt Philosophie?
Eine Einführung
Garbsen 1992. ISBN 3-929245-01-9
(112 S.; Paperback; A5; 9 Abb.; Sachregister; 5,- €)
Ökonomie
Eine populäre Einführung in die “Kritik der politischen Ökonomie”
2. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, Garbsen 1993.
ISBN 3-929245-00-0. (136 S.; Paperback; Sachregister; 7,50 €)
Klassenanalyse und politische Strategie
Eine Einführung am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
Garbsen 1993. ISBN 3-929245-02-7. (80 S.; Schnellhefter; A 4; 6,- €)
Logik
Kleines Lehrbuch des menschlichen Denkens. Begriff, Urteil, Schluß und von der
wissenschaftlichen Methode
Garbsen 1994. ISBN 3-929245-03-5. (302 S.; gebunden; Paperback; Personen- und Sachregister; 17,50 €.)
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