Philosophie aus den Archiven.
Erich Fromm über die Macht der Liebe.
Ein Beitrag aus der Reihe ‚Sein und Streit‘,
Deutschlandfunk-Kultur, vom 22.12.2019.
Der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm
(Müller-May/Erich Fromm Estate) im Gespräch mit Hans Jürgen Schultz,
aufgenommen im Jahr 1974.
Das Gespräch:
Zurückgekehrt aus dem Exil
Im Januar 1974 befragte Schultz Erich Fromm in seinem Schweizer Wohnort Muralto ausführlich zu seiner intellektuellen Biographie. Der prominente Sozialphilosoph war erst vor Kurzem aus den USA zurückgekehrt und arbeitete an dem Buch, das sein berühmtestes werden sollte: an „Haben oder Sein“. Fromm, als Kind jüdisch-orthodoxer Eltern 1900 in Frankfurt am Main geboren, hatte Psychologie, Philosophie, Soziologie und Medizin studiert und als Dozent an Max Horkheimers „Institut für Sozialforschung“ unterrichtet, bevor er Deutschland 1933 nach dem politischen Sieg der Nationalsozialisten verließ. Im amerikanischen Exil lebte und lehrte er lange in New York. 1950 zog er nach Mexiko und arbeitete auch dort als Hochschullehrer und Psychoanalytiker. Jetzt aber war er aus der Emigration zurück in Europa.
Kritische Distanz zur Moderne
Im Gespräch mit Schultz blickte Fromm auf seine Kindheit und Jugend zurück: In einer Familie mit weit zurückreichenden rabbinischen Ahnen sei er im Geist einer „vorbürgerlichen, vorkapitalistischen und, wenn Sie so wollen, sicherlich mehr mittelalterlichen als modernen Tradition“ aufgewachsen. Die traditionelle jüdische Geisteswelt habe ihm eine produktive Distanz zur sozialen Wirklichkeit erlaubt: „Ich bin immer noch ein Fremder in der Geschäftskultur. Das ist eine wichtige Quelle dafür, daß meine Einstellung zur bürgerlichen Gesellschaft und zum Kapitalismus eine sehr kritische wurde.“ Auch der Erste Weltkrieg, bei dessen Ausbruch Fromm 14 Jahre alt war, habe sein Fühlen und Denken nachhaltig geprägt und ihm zeitlebens die Frage aufgegeben: „Wie ist Krieg möglich, politisch und psychologisch?“
Ein sozialistischer Humanist
Auf die Frage, welche Schriften für sein eigenes Denken entscheidend waren, nannte Fromm die prophetischen Bücher der hebräischen Bibel, und die Werke von Karl Marx, Johann Jakob Bachofen und Sigmund Freud. In seinen eigenen Veröffentlichungen verband er kritische Gesellschaftstheorien – er gehörte zunächst zum frühen Kreis der Frankfurter Schule – mit Elementen der psychoanalytischen Theorie zu einem eigenen „sozialistischen Humanismus“: „Weil man sich selbst und andere nur richtig sehen kann, wenn man sie in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit sieht, das heißt, wenn man dem, was in der Welt sonst vor sich geht, kritisch gegenübersteht. Es ist auch ein Gebot der Liebe.“ Für seine recht eigenwilligen Lesarten insbesondere der Werke von Marx und Freud wurde er teilweise kritisiert. Viele seiner Werke fanden aber über die Fachwelt hinaus breite öffentliche Resonanz – „Die Kunst des Liebens“ (1956) und „Haben oder Sein“ (1976) avancierten sogar zu Bestsellern.
Suche nach der Wahrheit
Den Auftrag eines öffentlichen Intellektuellen sah Fromm darin, „die Wahrheit zu suchen, so gut er kann, und sie zu sagen“. In dem Rundfunkgespräch von 1974 verband er damit einen Appell, der an Aktualität nichts eingebüßt hat: „Wenn die Intellektuellen im Dienste eines Parteiprogramms und im Dienste politischer Ziele – mögen sie auch noch so gut sein – ihre Funktion einschränken, die volle Wahrheit zu suchen und zu sagen, dann versündigen sie sich an ihrer eigensten Aufgabe und letzten Endes an der wichtigsten politischen Aufgabe, die sie haben.“