DR. GERHARD BRANSTNER

25.05.1928-18.08.2008

Deutscher Erzähler, Philosoph, Essayist, Kulturtheoretiker, Aphoristiker, Schriftsteller, Dramatiker, Theaterregisseur.


Erweitert und aktualisiert im Oktober 2019.

 

1980 promovierte der studierte Philosoph mit der Dissertation „Die Kunst des Humors“; es folgen Jahre als Hochschullehrer, Cheflektor des Eulenspiegel-Verlags, als freischaffender Autor; 2000 scheitert ein Parteiausschlußverfahren der PDS; G. Branstner ruft die Internetzeitschrift „Die Hornisse“ ins Leben, in der er seine Ideen zur ‚Theorie des wirklichen Sozialismus‘ publiziert; methodisch begründet er die „Technik der heiteren Verstellung“: durch „systemsprengende Heiterkeit“ entwaffnet und verkehrt sie jede Art ideologischer Dogmen; folgerichtig geht er als stilsicherer Autor mit den sog. Koryphäen und Spezialgebieten genial respektlos um, verkürzt komplizierte Sachverhalte auf pointierte Kernsätze; zuletzt (1997) lautet sein Credo: „Die konsequente Kritik des Marxismus ist seine Fortsetzung“.

Foto von Ingrid Kandel, abgedruckt in:
Weimarer Beiträge, 1987, Nr. 5, 33. Jahrgang.
(
Bis wir Frau Kandel ausfindig gemacht und sie um Veröffentlichungsrecht gebeten haben,
muß das Bild als urheberrechtlich geschützt betrachtet werden.
)


Folgend Auszüge aus: Gerhard Branstner, „Die Welt in Kurzfassung“, Kai Homilius Verlag, Berlin, 2000.
161 Sentenzen über die eigentliche Revolution, das Naturgesetz des Menschen, den Kapitalismus und die drei kopernikanischen Wenden.
Auszugsweise hier als PDF; in letzten Exemplaren zu beziehen
hier.

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… Nur indem der Mensch sich anpaßt, entwickelt er sich, und er entwickelt sich, indem er sich auf seine Weise anpaßt. Der Zugvogel flieht vor dem Winter nach dem warmen Süden, der Mensch heizt den Ofen an. Das ist der Unterschied. Der Mensch nimmt nicht eine Veränderung mit sich vor, er verändert seine Umwelt. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, daß er sich der Natur anpaßt, indem er die Natur sich anpaßt. Er verändert sie zu seinen Zwecken. Aber er verändert auch sich: Er organisiert sich als gesellschaftliches Wesen. Die gesellschaftliche Organisation, ihre Notwendigkeit, ist nur zu verstehen, wenn sie als das dem Menschen eigene Organ der Anpassung verstanden wird. Das ist die natürliche Funktion der gesellschaftlichen Organisation des Menschen. Von den Produktionsinstrumenten und Produktionsverhältnissen, den Klassenstrukturen, von Staat, Justiz usw. bis zu den Wissenschaften, Moral, Kultur ist die gesellschaftliche Organisation Organ der Anpassung [des Menschen an die Natur (wiederkehrende Anm. d. Red.)]. Und bestimmt folglich deren Form.
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Und indem die Anpassung die gesellschaftliche Organisation zu ihrem Organ macht,macht sie die Gesellschaftsordnungen zu ihrer Funktion. Im Besonderen gibt sie dem Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Revolution den tieferen Sinn und Inhalt. Die eklatante Verletzung eines Gesetzes der Natur, des Gesetzes der Anpassung, der Einheit von Mensch und Natur, als Folge der Verletzung des gesellschaftlichen Gesetzes der Harmonie von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen findet nur einmal statt. Es ist die Probe darauf, ob der Mensch eine Fehlleistung der Natur ist oder nicht.
45
Wenn die Menschheit in die ökologische Krise geraten ist, muß die Gesellschaft ein für allemal bewußt als Organ der Anpassung [des Menschen an die Natur] organisiert werden. Erst damit verläßt die Menschheit ihre Vorgeschichte und tritt in ihre eigentliche Geschichte ein.
46
Die Realisierung des Gesetzes der Anpassung als natürliche Freiheit setzt die Realisierung der sozialen Freiheit voraus. Mit anderen Worten: Das Gesetz der Anpassung bestimmt, welche Art von Gesellschaft nötig ist, um die Anpassung zu realisieren. Wir müssen unsere Vorstellungen vom Übergang der einen Gesellschaft in die andere grundlegend ändern. Die Gesellschaft muß als Organ der Anpassung [des Menschen an die Natur] eingerichtet werden, angefangen von der Art des Eigentums, der Produktionsweise über Produktionsstrukturen und ökonomischen Wertsetzungen bis zum Verhältnis von Erster und Dritter Welt. Das Gesetz verlangt eine bestimmte Organisation der Gesellschaft, es verlangt die Gesellschaft als funktionsfähiges Organ der Anpassung [des Menschen an die Natur]. Und nur eine Gesellschaft, die diese Funktion erfüllt, kann sozialistisch und schließlich kommunistisch genannt werden. In diesem Sinne führt Darwin logisch genommen zum Kommunismus. Auch wenn Darwin wie Marx keine Vorstellung von dieser Logik hatte.
52
Da der Kapitalismus unfähig ist, dem Gesetz der Anpassung zu genügen, kann nur der wirkliche Sozialismus die Alternative sein. Ein anderer Schluß bleibt nicht übrig. Eine Menschheit, die überleben will, muß zu diesem Schluß kommen. Wenn nicht anders, wird sie dahin geprügelt werden. Die Reduzierung der natürlichen Existenzbedingungen ist ein Prozeß, in dessen Verlauf die Menschheit immer schmerzlichere und schließlich unerträgliche körperliche und seelische Schäden erleiden wird. Der Absturz auf das Niveau des Höhlenmenschen ist da noch die freundlichste Aussicht. Die Prügel, die uns die geschändete Natur verabfolgen wird, werden schon den nötigen Willen befördern, die richtige Alternative zu erfassen, da kann kein Zweifel sein. So unangenehm die Prügel auch sein werden, so sehr sind sie unsere sichere Hoffnung. Der Sozialismus ist folglich keine Utopie (es sei denn, unser Überleben ist Utopie), er ist das Gebot der Selbsterhaltung. Er ist genau das, was dem Gesetz der Anpassung entspricht. Wenn es nicht schon zu spät ist, weil die Vernichtung der Existenzbedingungen die Kausalität des Selbstlaufs angenommen hat und nicht mehr gestoppt werden kann.
53
Ein wichtiger historischer Aspekt ist der Unterschied zwischen der Anpassung aus Not und der Anpassung in Freiheit, der gekonnten, geplanten, kulturstiftenden, weltgestaltenden Anpassung. Diese Anpassung geschieht in einer speziellen Stufenfolge eines internationalen Systems, in einer internationalen Konzeption und Organisation, also unter Voraussetzung eines sozialistischen Weltsystems.
54
Wenn es im Kapitalismus einen Rechtsstaat gäbe, gäbe es kein Kapitalismus mehr. Er wäre, als verbrecherisches System überführt, längst zum Tode verurteilt worden.
55
Eine weitere Verschärfung der Umweltfeindlichkeit ist der Verwandlung des Kapitalismus in eine allumfassende Wegwerfgesellschaft geschuldet. Wegwerfen steigert den Umsatz und damit den Profit. Die Wegwerfproduktion bewirkt die zweifache Zerstörung der Natur. Sie hat ihre Ausplünderung zur Voraussetzung und ihre Vergiftung zur Folge. Dagegen ist im Kapitalismus kein Kraut gewachsen. Besserungen in Teilbereichen werden stets von der Zunahme im ganzen übertroffen.
59
Daß dieser schmähliche Kapitalismus gegen den Sozialismus immer noch die bessere Figur abgibt, verdankt er nur dem unverdienten Glück, daß er sich mit dem „realen Sozialismus“ vergleichen kann und nicht mit dem wirklichen.
74
Das ökonomische Wesensmerkmal der Klassengesellschaft ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ihr politisches Wesensmerkmal ist die Verwaltung des Menschen durch den Menschen.
75
Der Übergang von der Urgesellschaft zur Klassengesellschaft ist der Übergang von der sozialen Gleichheit zur sozialen Ungleichheit. In sozialer Ungleichheit ist aber nur der verwaltete Mensch zu halten. Die Verwaltung des Menschen ist die Verkehrung seines Wesens, sie verkehrt die spezifische Form der menschlichen Anpassung in ihr gerades Gegenteil: Der Verwalter der Natur wird selbst zum Verwalteten (der Anpassende zum Angepaßten). Verwaltet sein heißt, daß die Autonomie des Menschen – sein höchstes Gut – eingeschränkt oder aufgehoben wird. An die Stelle der Entscheidung über sich selbst tritt die fremde Entscheidung über ihn, sein Wohl und Wehe hängt von der Urteilsfähigkeit, dem Gerechtigkeitssinn, der Laune, den Interessen, dem Charakter anderer ab. Und selbst wenn der letzte Verwaltete noch Verwalter sein möchte, der Mann die Frau und die Frau das Kind und das Kind die Puppe verwaltet (bereits im Spiel das Verwalten und Verwaltetwerden übt), so ist doch nicht jeder wirklich Verwalter, wohl aber jeder Verwalteter (selbst der oberste Verwalter). Er ist Gefangener im System der Verwaltung und nicht frei in seinen Entscheidungen. Der Mensch wird von Verwalteten verwaltet. Und das macht die Sache noch verkehrter.
77
Indem das Rollenspiel die Individualität, den „eigenen Kopf“ reduziert, produziert es Herdenverhalten. Würden sonst immer wieder Millionen in den Krieg laufen, um dort als Mörder oder Opfer zu fungieren; würden sich sonst Milliarden immer wieder zu Schwachsinnigen machen lassen und Regierungen wählen, deren Mitglieder wider ihre natürliche Intelligenz und wider besseres Wissen reden und handeln, weil auch sie eine Rolle spielen? Das Rollenspiel führt zur politischen und tendenzielle zur medizinischen Schizophrenie sowohl der Verwalteten wie der Verwalter. Ein Symptom dessen ist die Selbsttäuschung, da sie die Schizophrenie erträglich macht. Die Reduzierung seiner Autonomie reduziert die psychische Qualität des Menschen bis zu ihrer Zerstörung.
79
Wenn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen schon infam ist, so ist die Verwaltung des Menschen durch den Menschen noch infamer. Die Ausbeutung entwendet ihm nur sein Produkt, die Verwaltung entwendet ihn [sich] selber. Und kehrt ihn gegen sich selber, macht ihn zum „Selbstverwalter“. Die Demütigung wird zur Selbstdemütigung.

81
Die Verwaltung des Menschen durch den Menschen ist die tiefgreifendste, folgenschwerste und zugleich komplizierteste Verkehrung des menschlichen Wesens.

156
Glück besteht in der Übereinstimmung von Wollen, Können und Dürfen.

160
Frei ist der Mensch erst, wenn ihm die Mittel seiner Existenz zu Spielmitteln geworden sind.

161
Kopernikus setzte die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems und ließ die Erde um sie kreisen. Das war eine Wende im Verständnis der kosmischen Bewegungen. Und es war auch eine Wende der Bewegungen im Kopfe des Menschen. Marx setzte die Ökonomie: das Eigentum an Produktionsmitteln, die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen an die Stelle des von Hegel als Dominante gesehenen Staates und stellte die Sache damit vom Kopf auf die Füße. Diese Umkehrung gab der gesellschaftlichen Bewegung erstmals ein objektives Gesetz und machte sie materialistisch erklärbar. Das war die zweite kopernikanische Wende. Mit der Übertragung des Naturgesetzes der Anpassung auf die menschliche Gesellschaft vollzog Branstner die dritte kopernikanische Wende. Durch sie kehrt der Mensch nach absonderlichem Irrlauf in das Reich der Natur zurück. Voraussetzung ist die Erkenntnis der gesellschaftlichen Organisation des Menschen als Organ der Anpassung [des Menschen an die Natur]. Als das hat diese Organisation (von der Ökonomie bis zum Staat) keine andere Funktion als der die Anpassung verwirklichende Bienenstaat, wenn gleich auf irritierend höherem Niveau. Der Mensch ist gesellschaftliches Wesen nur, um das höchste Wesen der Natur zu werden. Auch wenn er gegenwärtig den entgegengesetzten Weg geht. Die erste kopernikanische Wende erfaßte die Bewegung der Natur, aber ohne den Menschen. Die zweite Wende erfaßte die Bewegung des Menschen, aber ohne die Natur. Die dritte Wende erfaßt die Bewegung des Menschen in ihrer gesetzmäßigen Verbindung mit der Natur.

Wer zuletzt lacht, lacht allein…


Wegen der fortschreitenden Auflösung der Präsenz seiner Ideen im Netz fühlen sich die Autoren des Archivs werkvermächtnisse.de verpflichtet, die wenigen noch zugänglichen und gemeinfreien Einführungen in seine ‚Philosophie der unbotmäßigen Heiterkeit‘ zu sichern. - Wir veröffentlichen weitere Beiträge und Dokumente von und über G. Branstner, sofern wir dazu autorisiert werden.

Im Unterordner Werkumriß unsere Sammlung.

Als prägnant-bündigste Einführung in Werk und Philosophie G. Branstners empfehlen wir:
Dr. Peter Reichel: 1. Gerhard Branstner im Interview; 2. Der Autor als Spielmeister - Zum Schaffen Gerhard Branstners.
Beide Artikel abgedruckt in: Weimarer Beiträge, 1987, Nr. 5, 33. Jahrgang.

Auch seine Netzseite haben wir 2015 als Replikat gesichert.

Hier sein Wikipedia-Eintrag.

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